Die neue europäische Ordnung |
Von Thomas Bez am 28.02.2022, aktualisiert am 06.03.2022
Weblog Tedesca <http://www.tedesca.net>
Rußland und wir
Die Propaganda zum Ukraine-Konflikt ist überwältigend und stellt in ihrer Einseitigkeit und intellektuellen Beschränktheit sogar die seit sechs Jahrern andauernde Kampagne gegen den amerikanischen Präsidenten Trump in den Schatten. Daher stellt sich die Frage, wie man unter den Umständen einer zu 95% der offiziellen Linie gleichlaufenden Berichterstattung und Debatte sogar in den alternativen Medien zu einem ausgewogenen Bild über Ursachen und Hintergründe des Konflikts zwischen den eigentlich dort kriegführenden Großmächten Amerika und Rußland kommen kann. Damit wollen wir uns zuerst beschäftigen, bevor wir im zweiten Teil zu den Fragen kommen:
Wir waren zum Geburtstag einer Freundin eingeladen. "Don't mention the war", dachten wir uns vorher, da wir den zu erwartenden Kreis noch nicht kannten und heutzutage schon ein Wort eine trauliche Runde sprengen kann. Aber so wurde es dann nicht. Schon bald kam das Gespräch auf den Krieg. Da herrschte keinerlei Unklarheit über die Ursachen dieses Krieges wie auch der zahlreichen anderen Kriege der letzten dreißig Jahre seit dem, was einmal einer das Ende der Geschichte genannt hat. Es waren einfache Menschen, die da zusammen saßen, musisch, christlich, heiter, informiert, widerständig, Mecklenburger, in den besten bis vorgerückten Jahren. Dieser Abend leuchtete, dank unserer Freundin war es ein erlesener Kreis, in dem wir uns fanden, und er bewies uns, daß die veröffentlichte Meinung sich nicht so weit mit der Meinung im Volk deckt, wie wir es zuweilen befürchten.
Episode zwei: Am Morgen des vierten Kriegstages verkündete uns ungefragt die Sprechstundenhilfe unseres Arztes, daß sie Putin gern erschießen würde. Ein kurzer geschichtlicher Exkurs, der Vergleich mit den Ursachen und seinerzeit möglichen Folgen der Kubakrise 1962, dämpfte ihren Furor, wahrscheinlich wird sie nun doch nicht an der Seite der Banderisten in die Schlacht ziehen. Als Ostdeutsche weiß sie nämlich, wo Kuba liegt und so ungefähr auch, was da war im Jahr 1962. Wir wollen damit sagen, daß die politische Bildung und das historische Denken im Osten noch besser entwickelt ist als im Westen Deutschlands. Wir werden ihr ihre Verirrung auch nachsehen müssen, denn wer sich ein realistisches Bild machen möchte, muß Informationen und Analysen ausdauernd suchen, kommt kaum umhin, Englisch zu lesen, und ein wenig Russisch kann auch nicht schaden, braucht viel Vorbildung, die heute kaum noch vermittelt wird.
Wahrheit und Verstehen sind kostbare Güter, die man sich schwer erarbeiten muß. Es gibt nicht mehr die vertrauenswürdigen Instanzen, die das Weltgeschehen journalistisch für uns aufarbeiten. Wir erinnern uns noch, wie Anfang der 1970er, neun oder zehn Jahre waren wir damals, Peter Scholl-Latour im Weltspiegel den Kambodschakrieg erläuterte. Wir verstanden natürlich nur einen Bruchteil, aber die Faszination der Reportage war der Anfang unserer politischen Leidenschaft. Damals reisten noch uneingebettete Korrespondenten vor Ort, und was sie im deutschen Fernsehen berichteten, war glaubwürdig. Wer in die gleichgeschalteten Zeiten hineingeboren ist, kann sich das gar nicht mehr vorstellen oder, schlimmer noch, versteht nicht einmal mehr die Notwendigkeit, so etwas zu haben.
Sogar noch in den 2000-nuller-Jahren konnten wir den Deutschlandfunk hören und das Fernsehen hatte wenigstens noch eine Lichtgestalt wie Harald Schmidt zu bieten. Aber es zogen schon die bleiernen Jahre der Kanzlerin herauf. Wer sich heute mit Staatsfernsehen und Staatsfunk zu informieren versucht, ist an die offizielle Propaganda verloren. Das gilt auch für die Systempresse, einschließlich Springer. Sogar in der NZZ ist die freiwillige Gleichschaltung schon abgeschlossen. Und man tut im Imperium der Lügen, wie der Präsident unseren Teil der Welt eben feixend nannte, gut daran, nicht ein einziges offizielles Wort über Rußland und die Ukraine zu glauben. Sich das gar nicht erst anzusehen und anzuhören tut der geistigen Gesundheit gut und macht Lebenszeit frei für Gutes, Schönes und Kluges.
In diesem Sinne sollte, wer gerade beim Aufräumen ist, auch gleich die sozialen Netzwerke von Facebook bis Twitter <http://www.tedesca.net/Digitale-Selbstverteidigung> über Bord zu werfen, die sich ebenfalls gleichgeschaltet haben und zensieren. Wer einen Überblick über die offizielle Linie benötigt, bekommt die Losungen direkt und kostenlos beim Redaktionsnetzwerk (RND), das der SPD gehört und die gesamte regionale Presselandschaft befüttert.
Wir haben uns für die täglichen internationalen Nachrichten und Analysen der Asia Times <https://asiatimes.com> in englischer Sprache zugewandt. Unter ihren Autoren mögen der unermüdliche Pepe Escobar und "Spengler" David Goldman manchem bekannt sein. Wir verfolgen die Spengler-Kolumne schon viele Jahre. Weiterhin folgen wir der Epoch Times <https://www.theepochtimes.com> und ihrer noch etwas schwächeren deutschen Ausgabe <https://www.epochtimes.de>.
Alternative Medien wie Tichys Einblick und die Achse des Guten, die die Corona-Angelegenheit noch sehr verdienstvoll behandelt haben, hat der Esprit verlassen, wo es um Rußland geht. Sie schleichen um die Debatte herum, indem sie die Inkompetenz der geopolitisch ohnehin irrelevanten deutschen Führung geißeln. Wir müssen sie mittlerweile etablierte alternative Medien nennen.
Russia Today (RT) <https://www.rt.com> und seine deutsche Ausgabe <https://rtde.site> sind wichtig und teilweise aus Europa nur noch über VPN oder TOR <http://www.tedesca.net/Digitale-Selbstverteidigung> erreichbar, aber man sollte sich im Klaren sein, daß auch die Gegenpropaganda Propaganda ist. Wer in dem kleinen, albernen, ernsthaften Land im Osten gelebt hat, hat gelernt, aus den eigenen Lebenserfahrungen und dem Abgleich mit Propaganda und Gegenpropaganda ein Bild der Welt zu weben. Aber wir werden älter, wollen uns diese Art von Informationsgewinn nicht nach 30 Jahren schon wieder antun, und wessen eigene Lebenserfahrungen reichen schon bis in die Ukraine.
Wir müssen inzwischen in die zweite Reihe der alternativen Medien vordringen, wo sich einige um ein differenziertes Bild von Rußland und den Zwängen seiner kritischen geopolitischen Lage bemühen, um etwas anderes als Propaganda und Fundierteres als das Empörungsrauschen zu finden. In Deutschland können wir als Analyse- und Meinungsseite Rubikon <https://www.rubikon.news> hervorheben, das wir schon in den beiden zurückliegenden Corona-Jahren schätzen gelernt haben, das aber an einer sehr uneinheitlichen Qualität der Beiträge leidet. Weiterhin sind die Analysen des Voltaire-Netzwerks <https://www.voltairenet.org> grundsätzlich in geopolitischen Belangen wertvoll. Anspruchsvolle Diskussion des Rußland-Komplexes in Kategorien von Geopolitik und Kulturkampf findet man in Nischen wie Sezession <https://sezession.de> und Tumult <https://www.tumult-magazine.net>.
Gäbe es die Seiten einiger Russen nicht, etliche davon Exilrussen, die schon mehr als ihr halbes Leben in Amerika leben und über den Westen noch viel mehr als wir verbittert sind, würden wir viele Sachinformationen zur aktuellen Lage überhaupt nicht mehr finden. Besonders möchten wir Andrej Rajewski "The Saker" <http://thesaker.is> hervorheben, der aber auch selbst sehr Partei ist. Was man auch liest oder hört oder sieht, es gilt immer: Glaube wenig, hinterfrage alles, denke selbst. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Personen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, die wirtschaftlich unabhängig sind und sich dadurch freie Rede anmaßen können. Manche betreiben eigene Blogs, manche sind in Videointerviews präsent. Man findet sie am besten dadurch, daß man sich von Einstiegspunkten Link für Link vorarbeitet. Auf diese Weise findet man auch unzählige nichtdeutschsprachige Seiten mit mehr oder weniger umfangreichen Blogs, die Beachtung verdienen. Der Leser sollte sich nicht durch den Graswurzelcharakter dieser Recherche- und Publikationsweise irritieren lassen. Die Aufdeckung des Hintergrunds von Corona geht auch auf dieses Prinzip zurück und steigt jetzt langsam in den publizistischen Mainstream hoch.
Wer mit der Sprache von Webseiten Schwierigkeiten hat, kann Google Translate <https://translate.google.de> benutzen. Sonst verweisen wir ja nicht auf die Dienste der Monopolisten, aber mit der Übersetzung bereits publizierter Inhalte offenbart man Google keine Geheimnisse. Die Qualität ist für die gängigen Sprachen gut, für Russisch wenigstens ausreichend.
Corona hat viele Aspekte der staatlichen Repression perfektioniert, auch die Bewirtschaftung der Informationswüste. Das Corona-Ereignis wurde etwa 20 Jahre vorbereitet, die letzten zehn Jahre davon intensiv <http://www.tedesca.net/The-Great-Reset>, zwei Jahre nach seiner Aktivierung kommen langsam genügend Fakten ans Licht, damit nicht nur wenige besonders Interessierte die Vorgänge durchschauen können, sondern das Wissen darum Gemeingut wird. Langsam dringen Whistleblower und nicht in Staatsdiensten korrumpierte Wissenschaftler durch, meist unter höchstem persönlichen Einsatz und unter sicherer Vernichtung ihrer bürgerlichen Existenz. Aber jetzt kann Corona plötzlich als weitgehend abgesagt gelten, die elektronische Identifikation und der Impfzwang in irgendeiner Form werden noch kommen.
Dem aktuellen Geschehen in der Ukraine gehen etwa 30 Jahre seit Auflösung der Sowjetunion voraus beziehungsweise 20 Jahre, nachdem die Perioden des naiven Träumers und des hellsichtigen Trinkers vorbei waren. Jedermann hätte über 20 Jahre die Aufräumungsarbeiten im Innern und an den Rändern Rußlands verfolgen können, jedermann hätte die eindringlichen Reden des russischen Präsidenten hören können. Aber als einer der übelsten Oligarchen, blitzartig aufgestiegen in der Periode des hellsichtigen Trinkers, hinter Gitter kam, heulte die westliche Propaganda bis hin zur letzten Nicht-Nichtregierungsorganisation wegen dieser illiberalen, undemokratischen Behandlung. Wenn der russische Präsident vor dem deutschen Parlament oder der Münchner Sicherheitskonferenz sprach, warb, bettelte und drohte, zogen die Rotzlöffel in den vorderen Reihen des Auditoriums Grimassen und man empörte sich, welche Rede der Russe sich anmaße. Als Rußland schließlich handelte und Georgien unter Kontrolle brachte, hatte der Westen das Propagandapotential dieses Vorgangs offenbar nicht rechtzeitig vorher erkannt. Als Rußland seinen Schwarzmeerzugang sicherte, war der Westen noch mit der publizistischen Verarbeitung des Maidan-Putsches <https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2014/Putsch-in-Kiew-Welche-Rolle-spielen-die-Faschisten,ukraine357.html> beschäftigt und die Propagandamaschine lief zu spät an. Die Eskalation in der Ukraine war sorgfältiger vorbereitet als in Georgien, und zwar jahrzehntelang durch "Fuck-EU"-Amerika, und die Propaganda kann jetzt aus allen Rohren feuern. Wie bei Corona wird es eine Weile dauern, bis die Evidenz für alle Zusammenhänge sich in der öffentlichen Wahrnehmung etablieren wird. (Der Link auf den NDR-Beitrag zum Maidan-Putsch <https://daserste.ndr.de/panorama/archiv/2014/Putsch-in-Kiew-Welche-Rolle-spielen-die-Faschisten,ukraine357.html> ist bemerkenswert. Vor acht Jahren wußte man im Staatsfernsehen noch von den aktiven faschistischen Kräften in der Ukraine.)
Vorerst ist das deutsche Volk wieder im kollektiven Rausch. Es gilt einen gemeinsamen übermächtigen und unsichtbaren Feind zu bekämpfen. Es kommt ein wohliges Sportpalastgefühl auf, das schweißt zusammen, das macht Pogromlaune. Vor zwei Jahren war der Feind Corona, heute sind es die Russen, ersatzweise auch individuell die, die man in der Nachbarschaft trifft. Und wie sich jetzt der Corona-Katzenjammer eingestellt hat (denn wie sich zeigt, wurde das Virus von unseren amerikanischen Freunden gebaut, die Impfung dagegen ist lebensgefährlich, ein korrupter Klüngel hat sein Glück damit gemacht und die meisten Bilder, die man gesehen hat, waren nicht echt), ist die nächste Ernüchterung schon in Sichtweite, und diese wird noch schmerzhafter sein.
Eine plausible Erklärung, warum sich Rußland so verhält, wie es sich verhält, und welche Neuordnung der Ukraine sich als Ergebnis dieses Konflikts entwickeln könnte, muß aus der Historie untermauert sein und berücksichtigen, daß in den internationalen Beziehungen auch in der heutigen Welt noch Interessen ausschlaggebend sind und nicht wie auch immer geartete sogenannte Werte.
Rußland hat unermeßlich viel Kraft und Blut aufgewendet, um seine schon seit jeher gefährdete Südflanke zu stabilisieren. Die Einnahme der Krim ist noch gar nicht so lange her, der vereitelte Versuch Amerikas, seine Militärmacht über Georgien an Rußland heranzuschieben, schon etwas länger. Tschetschenien war gerade erst wieder hinreichend befriedet, als Georgien brannte.
Nach der Einnahme der Krim durch Rußland, die der Westen trotz allem hochtönenden Lamento schnell als faktisch hingenommen hat, hat sich die westliche Welt noch weiter in den selbstgeschaffenen Malstrom ihrer Auflösung saugen lassen: Ein ungeplanter amerikanischer Präsident hat den Westen in eine erfreulich nachhaltige Identitätskrise getrieben. Der große Krieg gegen selbstinszenierten Terror hat in mehreren Etappen ein schmachvoll nichtiges Ende gefunden – nichtig aber nur für Amerika, sehr existentiell hingegen für etliche zerstörte Nationen und Millionen Tote. Ein mit amerikanischem Geld geschaffenes Virus wurde zum Vehikel der nächsten Stufe der Weltzerstörung <http://www.tedesca.net/The-Great-Reset>. Angelsächsische Bollwerke der Demokratie, in die auszuwandern wir uns vor wenigen Jahren noch vorstellen konnten, haben die Wonnen des Faschismus entdeckt: Australien, Neuseeland, Kanada. Unser und nicht nur unser Vertrauensverlust in die künftige Funktionsfähigkeit der Welt ist fundamental.
Nun zur weniger verwirrten Hälfte der Welt: Die Beziehungen zwischen China und Rußland haben Fortschritte gemacht, wohl auch deshalb, weil der gemeinsame Feind nicht mehr verbergen kann, wie ausgelaugt er ist, materiell wie ideell, und den Chinesen immer weniger Nützliches zu bieten hat. Ob die Beziehung zu China überhaupt für jemanden gesund sein kann, ist ein Thema für sich. Für den Westen war sie es jedenfalls nicht.
Kasachstan ist vorerst wieder ruhiggestellt. Weißrußland ist auf dem Weg, sich mit dem russischen Imperium wieder zu assoziieren. Nach jahrzehntelanger Destabilisierung der Ukraine durch amerikanische Zersetzungstätigkeit, unverhüllten erfolgreichen Putschaktionen des Westens 2004 und 2014, immer weiter hochgeschraubten Drohungen und schließlich der um die Jahreswende gezielt eskalierten Gewalt in der Ostukraine hat sich Rußland entschlossen, (1.) nachhaltig zu verhindern, daß das Land zur Militärbasis feindlicher Mächte wird, (2.) eine atomare Neubewaffnung der Ukraine auszuschließen sowie (3.) weitere Massaker an den dort lebenden ethnischen Russen durch eine schon seit hundert Jahren gärende protofaschistische Bewegung <https://www.bpb.de/themen/europa/ukraine/145735/analyse-der-ukrainische-nationalismus-zwischen-stereotyp-und-wirklichkeit> wie auch staatsoffizieller Terrorverbände <https://de.wikipedia.org/wiki/Regiment_Asow> zu unterbinden. Das sind alles keine durch Rußland geschaffene Kriegsgründe, und ihr Zusammenkommen hat Rußland jetzt veranlaßt einzugreifen, wofür es 2004 noch nicht gefestigt genug gewesen wäre, was es aber eigentlich spätestens 2014 schon hätte tun müssen.
In den Stone-Interviews spricht Putin oft von den "amerikanischen Partnern", und wir können das einfach nicht für nur eine Floskel halten, obwohl doch jedem in der Welt klar sein müßte, daß Amerikaner niemals und für keinen Partner sind. Herrschte in Rußland noch zu lange Zeit ein Restvertrauen auf die eigenen Anschlußmöglichkeiten an die westliche Welt, die seit Peter dem Großen immer wieder aufkeimende Illusion? Andererseits kündete doch schon die münchner Rede von 2007 von tiefer, allumfassender Desillusionierung. Fühlte sich Rußland auch in den 2010er Jahren noch nicht gereift, dem westlichen Gegner konfrontativ entgegenzutreten? Irgendwann im Juli 2015 platzt Oliver Stone jedenfalls der Kragen:
Stone: Und plötzlich sind die Amerikaner keine Partner mehr für Sie. Sie haben den Ausdruck »unsere Partner« viel zu oft verwendet. Aber jetzt sind sie keine Partner mehr.
Putin: Aber der Dialog sollte fortgeführt werden.
Stone: Stimmt schon. Aber »Partner« ist ein Euphemismus.
Rußland handelt rational und sein Präsident ist keineswegs wahnsinnig. Mehr noch: Diesem Präsidenten verdankt Rußland heute seine souveräne Existenz. Der naive Träumer und der hellsichtige Trinker hatten den Ausverkauf des Landes schon weit vorangetrieben, das Volk durfte zehn Jahre konzentrierter Erfahrung machen, wie es ihm unter dem westlichen Modell gehen würde. Hätte Putin sich nicht mit Härte im eigenen Land durchgesetzt, wäre es heute ebenfalls ein Vasall Amerikas und seine Schätze deren. Rußland war nur einen Präsidenten vom Chaos entfernt. Die Mehrheit der Russen weiß das sehr wohl, und die Unterstützung im Volk für den Einsatz in der Ukraine übersteigt weit die einfache absolute Mehrheit. Die Zustimmung im rußländischen Volk für den Präsidenten liegt in der gleichen Größenordnung wie zu Zeiten des Tschetschenienkrieges, der Georgien- und der Krimaktion. Die im Westen geliebte Vorstellung, das Volk der russischen Föderation sei gespalten, ist realitätsfern. Abgespalten ist nur eine kleine urbane Scheinelite. An einem russischen Volk ohne Putin hätten die Mächte des Westens genausowenig Freude. Die tiefe Abneigung der Russen gegenüber dem Westen gibt uns Hoffnung. Wir empfehlen die sehr ausgewogene Biographie Thomas Fasbenders und die vier Stunden Film von den Interviews Oliver Stones mit Putin. Hören Sie genau hin, es geht auch öfter um die Ukraine.
In der nuklearen Welt kann nicht mehr jedes Land sein Bündnis ohne Berücksichtigung der Sicherheitsinteressen seiner Nachbarn frei wählen. Das ist ein Grundprinzip der Geopolitik. Rußland wird ebenso wenig wie Amerika zulassen, daß der geopolitische Hauptgegner sich in unmittelbarer Nachbarschaft mit A-, B- oder C-Vernichtungswaffen festsetzt. Die tschetschenischen, georgischen, kasachischen Muster werden gewiß auch auf die Ukraine angewandt werden: Abtrennung von Gebieten, Installation eines harten und der Zentralmacht ergebenen, zumindest freundlichen Regimes und Belassen im Status einer abhängigen Pufferregion. Den neutralen Status der Ukraine wie übrigens auch Finnlands sollte besser niemand in Frage stellen. Die Russen tun, was sie sagen. Die Amerikaner wissen das, sie scheinen die Ukraine als NATO-Basis abgeschrieben zu haben, wollen daraus ein neues Afghanistan für Rußland basteln und außerdem auf Gedeih und Verderb die vollständige Isolierung Rußlands zum Schaden Europas anstreben. Es wird auch zu ihrem eigenen Schaden sein.
Die Chancen, den bewaffneten Konflikt mit Diplomatie zu vermeiden, hat der Westen alle verpaßt, wenn er sie denn überhaupt hätte nutzen wollen. Möglichkeiten dafür gab es viele, die Gesprächsangebote des geschmähten Präsidenten waren wie gesagt zahlreich. Mittlerweile verstreichen hinter den bekanntermaßen wirkungslosen Embargos alle Chancen, diesen Konflikt mit Diplomatie zu befrieden. Tatsächlich agiert der Westen, als wolle er keine Verständigung. Wer aber nicht oder nur zum Schein verhandlungsbereit ist, riskiert, daß das kleineste Fehlverhalten einer Konfliktpartei zu einer extremen Eskalation führt. Sorgen machen uns gerade besonders die Revanchegelüste osteuropäischer Staaten, deren Ursachen teilweise Jahrhunderte zurückreichen, allen voran die notorisch revanchistischen Polen. In einer nuklearen Welt dürfen solche alten Rechnungen keine Rolle mehr spielen. Wenn sich ein NATO-Staat mit irgendwelchen Kriegshandlungen in der Ukraine einmischte, könnte das zum Untergang für ganz Mitteleuropa führen.
Vor drei Jahren schrieben wir hier <http://www.tedesca.net/Dreimal-30-Jahre> in einer persönlichen Zwischenbilanz und einer Reflexion unseres politischen Denkens:
Falls es für Mitteleuropa eine Zukunft unserer Kultur und Lebensweise geben sollte, dann liegt sie in einem neuen Bündnis mit dem Osten des Kontinents. [...] Das christliche Abendland muß Erneuerung in einem neuen, eurasischen Bündnis mit Rußland finden. Ein Bündnis, das sogar nur mit China wirtschaftlich lebensfähig sein wird. Die Ukraine und Weißrußland, heute Figuren auf dem "Herzland"-Schachbrett der Brzezinskis und Barnetts, werden wieder Teil der rußländischen Föderation sein, wo sie historisch hingehören, und werden sich dafür glücklich preisen können.
Die Kategorie, die wir damals meinten, war die eines Rußland als Kulturraum. Rußland fühlt nicht (west-) europäisch, sondern verortet sich kulturell auf einer höheren Stufe. Für jemanden, der kulturell im Westen heimatlos geworden ist, hat das einen großen Reiz. Da Amerika die mit dem Maidan-Putsch erreichte Westorientierung der Ukraine noch längst nicht ausreichte, finden wir uns mit dieser Schwärmerei in einer höchst politischen und historischen Umwälzung für ganz Europa wieder, zu der sich die Folgen des Kiewer Putsches nun entwickelt haben.
Rußland ist eines der wenigen Länder, die autark existieren können, und könnte das sogar ohne einen Verbund mit China. Westliche Embargos der vergangenen zehn Jahre haben Rußland wesentlich zu neuer Stärke verholfen, und die aktuellen Embargos sind in der Zukunftsplanung einkalkuliert. Wir glauben, daß Rußland sich erst kürzlich definitiv für seine Abtrennung von der atlantischen Welt entschieden hat, und diese wird dauerhaft sein. Der Rückzug Rußlands in eine wehrhafte Autarkie wird geschehen. Europa, West wie Ost und ganz besonders unserem dummen Land, stehen selbstverschuldete schlimme Zeiten bevor mit Schwinden der Außenhandelsnachfrage bei gleichzeitig hohem Bedarf an Einfuhren in allen Wirtschaftssegmenten, die Vollendung der lange begonnenen Deindustrialisierung mit Arbeitslosigkeit und Verelendung ganzer Volksschichten, Energieknappheit bis zum totalen Zusammenbruch der industriellen Infrastruktur, Aufbrechen robuster Auseinandersetzungen innerhalb der europäischen Union um die schwindenden Ressourcen an Energie und Nahrung und schließlich und endlich Bürgerkrieg. Ist Rußland erst isoliert, wird Amerika sich Kontinentaleuropa nur noch als Militärbasis halten. Sein Gas, solange es noch etwas aus der verdorrten Erde pressen kann, wird es in Regionen verkaufen, die es sich leisten können.
Ein kontinentales eurasisches Bündnis "von Wladiwostok bis Lissabon" <https://www.ifo.de/publikationen/2017/monographie-autorenschaft/freihandel-von-lissabon-nach-wladiwostok-wem-nutzt-wem>, diesmal zu den Bedingungen Rußlands, wird Westeuropa dann vielleicht als sein vitales Interesse begreifen lernen. Wenn es denn je dazu kommt, ist dies jenseits unserer eigenen Lebensspanne. Daß das Abendland in vorchristliche Barbarei zurückfällt, ist hingegen keine polemische Spekulation mehr, sondern eine sehr realistische Möglichkeit, die wir selbst noch erleben könnten. So endet das Ende der Geschichte.