Der Faschismus, noch immer in seiner Epoche |
Von Thomas Bez am 29.03.2018, aktualisiert am 01.11.2019
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Dogville, wieder gesehen nach 15 Jahren
Vor 15 Jahren erschien Lars von Triers Film Dogville. Seine Darstellungsmittel erschienen avantagardistisch, viele mögen geglaubt haben, der Film sei auf ihrer Seite, also sozusagen irgendwie links. Den Ort Dogville ausgelöscht hat schließlich auch nur eine finstere Verbrecherclique, da war alles klar im Raster von gut und böse und man mußte nicht genau hinhören. Den wuchtigen Schlußdialog wollte wohl niemand zur Kenntnis nehmen:
Grace: Ich schwinge mich nicht zum Richter über andere auf.
Vater: Du schwingst dich nicht zum Richter auf, weil du mit ihnen sympathisierst. Sowas wie eine zerrüttete Kindheit, und in der Folge davon ist ein Mord nicht unbedingt ein Mord – richtig? Du machst allein die Umstände für alles verantwortlich. Vergewaltiger und Mörder mögen gemäß deiner Auffassung Opfer sein, doch ich nenne sie Hunde. Und wenn sie ihr eigenes Erbrochenes auflecken, kann man sie nur mit der Peitsche davon abhalten.
Grace: Aber Hunde gehorchen nur ihrer eigenen Natur, warum sollten wir ihnen nicht vergeben?
Vater: Hunden kann man viel Nützliches beibringen, aber nicht, wenn wir ihnen jedes Mal vergeben, wenn sie ihrer eigenen Natur gehorchen.
Grace: Also bin ich arrogant, weil ich anderen Menschen vergebe?
Vater: Wie herablassend du bist, wenn du das sagst. Du gehst von diesem Vorurteil aus, daß niemand einen dermaßen hohen moralischen Anspruch an sich stellt wie du. Also entlastest du sie. Du vergibst anderen mit Entschuldigungen, die du nie und nimmer für dich selbst geltend machen würdest.
Grace: Warum sollte ich nicht barmherzig sein?
Vater: Nein, du solltest barmherzig sein, wenn Barmherzigkeit angebracht ist. Aber bleib dabei deinen Ansprüchen treu. Das schuldest du ihnen. Die Strafe, die du verdienst für all deine Vergehen, verdienen auch sie für all ihre Vergehen.
Grace: Sie sind menschliche Wesen.
Vater: Muß sich jeder Mensch für seine Taten rechtfertigen? Natürlich muß er das. Doch du läßt ihnen nicht einmal die Chance dazu.
Grace: Die Menschen, die hier leben, tun ihr Bestes unter sehr harten Bedingungen.
Vater: Wenn du das sagst, Grace... Aber ist ihr Bestes wirklich gut genug?
Erzähler: Grace sah all die verängstigten Gesichter hinter den Fensterscheiben und schämte sich dafür, daß sie diese Angst mit verursachte. Wie konnte sie sie jemals hassen für etwas, was im Grunde lediglich Schwäche war? Hätte sie nicht das gleiche getan wie all diese Leute in ihren Häusern? — Grace hielt inne, und währenddessen zerstoben die Wolken und das Mondlicht zeigte sich. Und Dogville machte wieder eine jener kleinen Lichtveränderungen durch. Es war so, als wenn das Licht, zuvor barmherzig und schwach, sich weigerte, die Stadt noch länger zu schützen. Das Licht drang jetzt in alle Unebenmäßigkeiten und Makel an den Gebäuden. Und an den Menschen. Und mit einem Mal kannte sie die Antwort auf ihre Frage nur allzu gut. Hätte sie selbst so gehandelt, wie die Menschen hier – nicht eine einzige ihrer Taten hätte sie verteidigen können und nicht streng genug verurteilen. Nein, was sie getan hatten war nicht gut genug. Und wer die Macht besaß, dies richtig zu stellen, hatte die Pflicht, es auch zu tun. Um anderer Städte willen, um der Menschheit willen, und nicht zuletzt auch um des Menschen willen, der Grace selbst war.
Grace: Ich könnte teilhaben daran, Probleme zu lösen, so wie das Problem von Dogville.
Vater: Wir könnten anfangen, indem wir einem Hund erschießen und ihn an die Wand nageln. Das hilft manchmal.
Grace: Nein, nein. Das würde die Stadt nur noch mehr verängstigen, aber nicht zu einem besseren Ort machen. Und es könnte wieder geschehen, falls zufällig dort jemand vorbeikommt und enthüllt, wie verletzlich sie sind. Diese Welt soll durch mich ein kleines bißchen besser werden. Wenn es eine Stadt gibt, ohne die die Welt besser dran wäre, dann diese hier.
Die Provinzler, heißt es in Dogville, können nicht "annehmen". Insbesondere nicht das Geschenk, als das eine Fremde sich darbietet, die nur eben nichts beitragen kann, um das prekäre Leben der Gemeinschaft leichter zu machen, da sie noch nie in ihrem Leben gearbeitet hat, die für den Ort ein Risiko darstellt, da sie von ihrem Clan und der Polizei gejagt wird, und die außerdem nervt, weil sie so hochnäsig wie ahnungslos daherkommt. Die Gemeinschaft reagiert auf den Zuzug der Fremden erst verstört, agiert dann unverschämt, niederträchtig, entwickelt sich schließlich gewalttätig vom Objekt zum Subjekt des Handelns und wird endlich durch den intellektuell und kulturell höherstehenden Protagonisten ausgelöscht, um die Welt dadurch besser zu machen.
Das ist wohlgemerkt keine Auseinandersetzung zwischen indigenem Volk und eingewanderten Fremden aus einem anderen Kulturkreis. Dieses Thema haben wir kürzlich erst mit einem anderen Film behandelt. Hier stoßen zwei Parteien aufeinander, die demselben Kulturkreis, vermutlich derselben Religion, demselben Volk, derselben Gesellschaft angehören, sich nur in ihrer Klassenzugehörigkeit unterscheiden. (Religions- oder Rassenzugehörigkeit ist so eindeutig kein Thema in diesem Film, daß wir nicht einmal zu einer Meinung kommen können, ob von Trier mit der Besetzung des Gangstervaters mit James Caan absichtlich oder versehentlich eine falsche Spur gelegt hat.)
Die Bewohner des Provinznestes sind freilich wahrhaft unausstehlich. Einfaltspinsel, Lügner, Belästiger und Vergewaltiger. Graces Fazit, daß die Welt ohne diesen Ort besser dran wäre, ist für den Zuschauer nicht schwer nachzuvollziehen. Zumindest wurde dem Film im Jahre 2003, soweit wir wissen, dieses Fazit von keinem angekreidet, was schon erstaunlich ist, da doch die westliche Elite so sensibel für alle Schwingungen des Faschismus zu sein glaubt. Die Dramaturgie des Filmes ist darauf angelegt, beim Zuschauer Verständnis für Graces Entscheidung zu erheischen, und er entläßt uns mit dem Gefühl der Genugtuung. Man könnte es auch so sagen: Der Film empfiehlt in einer solchen Konstellation Auslöschung des Niedern durch das Höhere. Oder was sich selbst für das Höhere hält. Der Film ist mithin protofaschistisch.
Es ist der Faschismus der Gutmenschen, ein linker Faschismus, wie er gerade wieder heraufzieht, besonders in Deutschland und der angelsächsischen Welt. Nach den zwar etwas anders gearteten aber ebenfalls linken Faschismusexperimenten des 20sten Jahrhunderts in Deutschland und Italien: durch und durch progressiv, versessen auf das Neue und bereit, im Namen des von ihnen definierten Fortschritts Massenmorde zu begehen.
Damals, vor 15 Jahren, waren die meisten wohl zu verwirrt um zu begreifen, was der Film ihnen sagen will. Jedenfalls haben ihm die falschen Leute applaudiert, wie man an der Liste der Auszeichnungen und Nominierungen sehen kann. Oder sie wähnten sich auf der anderen Seite, der Seite derer, die "die Macht besäßen, es richtig zu stellen". Aber sie wußten nicht, was und wie es richtig zu stellen sei, sie wissen es immer noch nicht. Vielleicht waren sie auch erotisiert von dieser Veranschaulichung der Oben-Unten-Schichtung, die die Mörderbande durch Auslöschung des Ortes gibt. Dieses Phänomen der Erotisierung der Massen, von denen man eigentlich den Gebrauch des Verstandes erhofft hätte, ist in der Geschichte des Faschismus häufig bezeugt. Der Provinzphilosoph Tom (Paul Bettany) repräsentiert im Film die auf diese Weise Umnachteten. Er lobt die Veranschaulichung in den höchsten Tönen, ist besinnungslos geil und würde gern mitmachen, wird aber von Grace voller melancholischem Abscheu eigenhändig erschossen, was die Veranschaulichung abrundet. Auch von dieser Art der Ablehnung williger Bewerber hat man schon mehrfach gehört.
Kein Wunder, daß Anders Breivik diesen Film mag. Und was hat er getan? Die Veranschaulichung umgekehrt und gezeigt, wie er sich faschistischen Furor des philosophischen Provinzlers (besser: Weltprovinzlers) gegen die urbane Elite vorstellt. Richard Millet hat es in seiner "Éloge litteraire" analysiert. Seit Breivik dem Film seine eigene Auslegung ("Illustration" heißt der Vorgang im Film selbst, in der deutschen Fassung viel präziser "Veranschaulichung") gegeben hat, ist es still geworden um Dogville. Gar von Trier selbst ist zurückgewichen, als ihm derart intensiv veranschaulicht wurde, wie man seinen Film weiterdenken kann, aber er ist ohnehin ein notorischer Von-sich-selbst-Distanzierer.
Die Zeiten sind andere geworden in den nur 15 Jahren seit Dogville 2003 erschien. Die Weltläufte sind ins Rutschen geraten, nicht weniger als das letzte Mal vor hundert Jahren. Die Gesellschaft der Guten und Gerechten, deren Bestes eben auch nicht gut genug ist, hat begonnen, jene ernsthaft zu fürchten, die die Konsequenz erneut veranschaulichen könnten, schwingt sich ihrerseits zu verschärfter Aggressivität auf und zettelt eine Kulturrevolution an. Faschisten aller Couleur gehen aufeinander los, so muß wohl das Fazit lauten. Da findet sich Links gegen Rechts, Rechts gegen Links, Somewheres (dumpfe Nationalkonservative aus Flyover-Country) gegen Anywheres (globalsozialistische Scheinelite) und umgekehrt. Es müssen also nicht einmal Kulturkreise sein, die aufeinanderprallen, unsere Zivilisation ist der globalisierten Welt nicht mehr gewachsen und hat sich sich selbst entfremdet. In Wahrheit will niemand mehr diese Welt zu einer besseren machen. Wo bei diesen Auseinandersetzungen Ideologien eine Rolle spielen, dann als Ausdruck von Lebenswirklichkeiten, politischen und wirtschaftlichen Interessen. Das Sein bestimmt das Bewußtsein.