Die neofeudale Klasse |
Von Thomas Bez am 12.03.2020, aktualisiert am 16.03.2020
Weblog Tedesca <http://www.tedesca.net>
Ein politisch-soziologischer Essay
So viel Verblendung war nie, haben wir hier kürzlich festgestellt <http://www.tedesca.net/Dreimal-30-Jahre>. Das konnten wir nicht so stehen lassen. Während wir in diesem letzten Essay, entstanden vor einem Jahr, unseren eigenen Lebenslauf politisch reflektiert und uns dabei mit unserer Unzufriedenheit mit den oberflächlichen Erscheinungen der gesellschaftlichen Entwicklung unseres Landes herumgeschlagen haben, wollen wir uns diesmal ein Stück zum Wesenskern dieser Entwicklung vorarbeiten.
1. Ausgehend von Helmut Schelskys Buch "Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen" von 1975 wollen wir den Weg einer kapitalismuskritischen, proto-sozialistischen Bewegung verfolgen, die zu jener Zeit in Westeuropa ihren Anfang genommen hatte.
2. Wir werden darlegen, daß soziologische Kategorien nicht ausreichen, um das Wirken dieser Bewegung über einen längeren Verlauf zu verstehen, insbesondere in die heutige Zeit hinein. Stattdessen werden wir zeigen, daß sich diese Bewegung als eigenständige ökonomische Klasse im marxschen Sinne formiert hat.
3. Wir werden die Traditionslinien insbesondere im 20sten Jahrhundert aufzeigen, auf die sich diese Klasse stützt und nach denen sie zu messen ist.
4. Wir werden ihre Existenzvoraussetzungen und ihr Verhältnis zur bestehenden Wirtschaftsordnung untersuchen, den Entwicklungsstand ihrer Herrschaft, und wir werden ihre Herrschaftsmittel diskutieren, wie sie sich bis heute in den westeuropäischen Staaten herausgebildet haben.
5. Und schließlich werden wir Faktoren und Entwicklungen benennen, die einen Gegenpol zur Herrschaft dieser Klasse bilden und möglicherweise zu ihrem Scheitern an der Realität führen werden.
Die Spur führt uns zurück in die späten 1960er und die 1970er Jahre. Um die gesellschaftlichen Entwicklungen jener Zeit im Westen in die richtigen Kategorien einordnen zu können, waren wir also auf Unterstützung angewiesen, und wir haben diese Unterstützung bei Helmut Schelsky gefunden, der vor 45 Jahren das Buch "Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen" geschrieben hat. Er war Soziologe, war zumindest zum Ende seines Lebens hin konservativ, und hat zuvor Schaffensphasen unterschiedlichen sozialistischen Grades durchlebt. Wir werden gewiß viel Zuspruch dafür ernten, daß wir sein Werk zum Ausgangspunkt für unsere Überlegungen wählen.
Schelsky spricht über die Bildung einer neuen Herrschaftsgruppe der Intellektuellen. Das ist, aus der Perspektive von 1975 formuliert, schon visionär zu nennen, benutzt aber den Ausdruck "Intellektuelle", den wir hier aus grundsätzlichen Erwägungen von vornherein, kategorisch vermeiden wollen, und spricht von Herrschaft, in die die Entstehung dieser Gruppe übergehen würde, aber tut das zu der Zeit, da diese noch nicht über Macht und Herrschaft verfügte. Für die Bezeichnung "Klasse" und die Charakterisierung als neofeudal ist es erst recht an dieser Stelle noch zu früh. Daher möchten wir als Hilfsterm den Ausdruck kapitalismuskritische Bewegung verwenden, der in seiner deskriptorischen Allgemeinheit und seiner definitorischen Schwäche gut zur undifferenzierten Zielsetzung und Sozialisierung dieser Gruppe in ihren Anfangszeiten paßt. Was wir hier kapitalismuskritische Bewegung nennen, ist übrigens identisch mit dem, was gelegentlich Neue Linke genannt wird. Wir wollen aber auch den Ausdruck "links" bzw. "Linke" hier durchgehend vermeiden und wir werden ihn auch nicht brauchen, genausowenig wie "rechts" und "Rechte", da wir hier nicht politische Kategorien verwenden, sondern gesellschaftstheoretische.
Die kapitalismuskritische Bewegung hat sich konstituiert in den 1960er Jahren an den Hochschulen des Westens und hat vor allem in Deutschland ihr Gewaltpotential in den 1970er Jahren beim Kampf gegen Kernenergie entwickelt. Aus dieser Bewegung ist das erste und bislang einzige Terrornetzwerk bundesdeutscher Genese hervorgegangen. Sie hat gegen Waffen des Westens demonstriert, mit denen dieser (und für Deutschland ausgerechnet ein sozialdemokratischer Kanzler, der letzte Sozialdemokrat schlechthin) schließlich mittelbar den Sowjetsozialismus in die Knie zwang.
Der Marsch durch die Institutionen, ein Konzept von beeindruckender visionärer Kraft und politischer Wirkmächtigkeit, wurde früh in der Geschichte dieser Bewegung erfunden. Sie begann die Multiplikatorstellen in Bildung und Ausbildung zu besetzen, die noch mächtigeren Multiplikatorstellen in Redaktionen und Sendern, die evangelische und schließlich auch die katholische Kirche, den Erziehungs-, Betreuungs- und therapeutischen Bereich, die Rechtspflege, die Verwaltung und Schritt für Schritt auch die Schaltstellen der Macht, Gewerkschaften und Parteien, die Ministerien, die Parlamente. Das war es, was mit dem Marsch durch die Institutionen gemeint war, und es geschah in ganz Westeuropa. Das Establishment der 1970er Jahre, das dahingeschieden oder dessen Reste heute auf dem Altenteil oder auf Gnadenstellen marginalisiert sind, hat damals die Tragweite bestimmt nicht ermessen. Auch Schelsky konnte das 1975 nicht, obwohl er dicht daran war.
Heute, nach zwei Menschenaltern, gehört ihnen der Staat. Zur echten Klasse formiert, formt und steuert die gereifte Bewegung die Sprache und damit das gesellschaftliche Bewußtsein. Sie filtert, was Öffentlichkeit ist oder zu sein hat.
In zusammenfassender und verkürzender Zitierung möchten wir hier einen kurzen Abriß der Grundthesen wiedergeben. Das verdeutlicht den soziologischen Grundgedanken und es zeigt auch, was heute, bald ein halbes Jahrhundert später und nach praktisch vollendetem Marsch durch die Institutionen, etwas anders betrachtet und formuliert werden muß.
Die Grundthese besteht in der Bildung einer neuen Herrschaftsgruppe der Intellektuellen. Diese Grundthese ist aus der strukturellen und geschichtlichen Verallgemeinerung einer soziologischen Zeitanalyse insbesondere der Jahre 1972-74 entstanden.
Mit der Kritik der intellektuellen "Sinn-Produzenten" als Priester- oder Klassenherrschaft soll keineswegs die Leistung der normativen Institutionen, also der Intellektuellen-Berufe, innerhalb der der modernen Gesellschaft schlechthin verworfen werden. Es geht im Gegenteil um den Nachweis, daß die hier liegenden sachlichen und gesellschaftsdienlichen Aufgaben von neuen Herrschaftsansichten umfunktioniert werden.
Die in diesem Buch entwickelten Thesen werden nicht so schnell veralten, wahrscheinlich Generationen überdauern; es wird nur in seiner Aktualität veralten, sodaß es sozusagen alle zwei bis drei Jahrzehnte neu geschrieben werden muß.
Die Sorge, die die generationenhaft sich ablösenden Autoren der Aufklärung gegen die Priester- und Klassenherrschaft der Intellektuellen verbindet, hat Georges Sorel auf die von vielen in ähnlicher Verzweiflung wiederholte Frage gebracht: "Wovon werden Wir morgen leben?"
Nachdem die Folgen des letzten Weltkrieges nun abgeklungen sind, treten neue soziale Bedürfnisse auf und neue soziale Gruppen bilden sich, wobei die Industriestaaten des Westens in vorderster Front der geschichtlichen Entwicklung stehen. Dort äußern sich die neuen Bestrebungen im Protest der Jugend und den sich damit verbundenden Herrschaftsansprüchen der Intellektuellen gegen die vorhandene Ordnung der Gesellschaft. Wir begreifen diese Auseinandersetzungen als Kampf von Herrschaftsgruppen um die soziale Macht und als einen Kampf von sozialen Klassen neuer Art, in der Ideologien und Ideologiekritik nur vordergründige Erscheinungen, also auch strategisch einsetzbare Kampfmittel, darstellen.
Im Grunde genommen geht es hier wieder um den in der Geschichte Europas uralten Widerstreit von weltlicher und geistlicher Herrschaft in einem modernen Gewande. Wir wollen diesen Gegensatz vorläufig in dem modernen Widerstreit von "Intellektuellen" und "Arbeitern" vergegenwärtigen.
Vor die für die industrialisierten Gesellschaften europäischen Stils typische Klassengegnerschaft von "Proletariat" und "Bourgeoisie" schiebt sich ein neuer Klassenkampf. Die in der marxistischen Schematisierung zumeist übersehene oder bewußt vernachlässigte Gruppe der "Gebildeten", der die Aufklärung der modernen Zeiten zu verdanken ist, ist in die Frontenstellung dieses Klassengegensatzes nie befriedigend eingeordnet worden. Sie wurde von Alfred Weber und Karl Mannheim noch als "freischwebende Intelligenz" bestimmt. Die gewachsene Bedeutung der Vermittlung von Informationen, wissenschaftlichen Erkenntnissen, Ausbildungs- und Orientierungswissen ermöglicht es dieser Gruppe, einen neuen Herrschaftsanspruch durchzusetzen und sich als neue Klasse der politisch und ökonomisch sich durchsetzenden "Sinn-Vermittler" und "Heilslehrer" zu begründen. Sie befindet sich im Klassengegensatz zu all denen, die der Produktion von Gütern, des Wohlstandes und des Funktionieren des gesellschaftlichen Systems dienen.
Die neue Klasse hat alles Interesse daran, zu verhindern, daß ihr Herrschaftsanspruch als neuer Klassenkampf bewußt wird. Stattdessen hält sie die Fronten des traditionellen Klassenkampfes ideologisch aufrecht und inszeniert eine ideologische Auseinandersetzung von Links und Rechts, von Sozialisten und Kapitalisten im Sinne des 19. Jahrhunderts.
Man darf die Haltung, die die politischen Herrschaftsansprüche dieser Klasse stützt, nicht nur als politische Ideologie begreifen, sondern muß sie als ein säkularisiert-religiöses Grundverhältnis zur Wirklichkeit sehen, das eine andere Religiosität ist als der christliche Heilsglaube. Geschichtlich gesehen findet mit diesem neuen Herrschaftsanspruch und dieser neuen Klassenbildung ein rückläufiger Prozeß einer Reprimitivisierung gegenüber der seit der Aufklärung vor sich gehenden Entmachtung religös-klerikaler Herrschaftspositionen statt.
Eine kritisch-aggressive Haltung ohne reale Substanz eines Gegners schlägt in einen Herrschaftsanspruch um, der von der Illusion und der künstlichen Erzeugung der alten Gegnerschaften lebt. Die Einsicht in diesen sozialen Mechanismus macht deutlich, in welcher Weise die Argumente der kritischen Aufklärungsphilosophie in die Bewußtseinsfront eines neuen intellektuell-klerikalen Herrschaftsanspruchs umfunktioniert werden können.
Schelsky quält sich, die soziale Gruppe, die er meint, zu benennen. Sie heißt mal "Sinn-Produzenten", "Heilslehrer", mal "Reflexionselite". Wir glauben, daß eine materialistische Deutung diesseits von Sinn und Heil mehr Klarheit erzeugt, und an letzterem Begriff stören uns zwei Dinge: der Teil mit "Reflexion" und der Teil "Elite". Immerhin macht er sich den jedenfalls im deutschen Sprachgebrauch geradezu verfemten Begriff der Klasse zueigen. Doch dann quält sich Schelsky mit der Charakterisierung der Klasse, die bei ihm mal Priesterkaste ist und mal eine aus dem Überbau ausgebrochene Schar von Intellektuellen. Wo Schelsky von Klasse spricht, weicht er lieber auf einen nichtökonomischen, anthropoligischen Klassenbegriff aus, wohl um die marxsche Klassendichotomie oder um die von ihm bevorzugte Dualität von Güter- und Sinnproduzenten zu wahren. Das wird in dienstleistungsorientierten, gar digitalisierten Gesellschaften immer schwerer. Heute ist zu erkennen, daß eher die Idee der Sinnproduktion aufzugeben ist. Der Umweg über den Klassenbegriff Thorstein Veblens ("Theorie der feinen Leute") scheint uns aus dieser Perspektive unergiebig und eine Identifizierung der Klasse, über die wir hier verhandeln wollen, mit Veblens Leisure Class sogar irreführend.
Die Übernahme der Macht im Staate ist eine neue Qualität und damit wahrlich ein Grund, Schelsky einmal neu zu lesen und, wie er es selbst anregte, neu zu schreiben und, wie es Marx gesagt hätte, seine Theorie vom Kopf auf die Füße zu stellen. Dazu sind Fragen zu beantworten wie:
1. Wie ist die Klasse zu benennen? Wer ist sie wirklich? Wie erkennen wir sie?
2. Wo kommt sie her? Welches sind ihre Traditionslinien?
3. Welches sind ihre Machtmittel und Herrschaftsinstrumente?
4. Wo ist sie national und global verortet? Wie etabliert ist sie in anderen Nationen und Regionen?
5. Und schließlich: Welches sind ihre Schwachstellen? Welche gesellschaftlichen Entwicklungen können sie zu Fall bringen?
Wir wollen uns von Schelsky gerade hinsichtlich seiner soziologischen Kategorien entfernen, die, wie soziologische Kategorien dies gelegentlich tun, die wirklich nötigen Schlußfolgerungen nur verschleiern. Es geht nicht um Intellektuelle und auch nur sehr am Rande um Priesterherrschaft. Die Differenzierung von weltlicher und geistlicher Herrschaft hat sich erübrigt, und falls da einmal geistliche Herrschaft war, hat sie sich im Staatlichen ihrer Ausübung völlig verweltlicht. Der Titel seines Buches ist aber wirklich ein Volltreffer: Die Arbeit tun die anderen. Das ist tatsächlich der Dreh- und Angelpunkt, das zentrale Kriterium, mit dem sich das Milieu identifizieren läßt, das seinen eigenen Klassenkampf in Westeuropa zu Zeiten Schelskys zu führen begonnen hat und das wir heute als Opponent im Klassenkampf des 21sten Jahrhunderts sehen.
Gern benutzen wir den Begriff der Klasse, der in seiner aktuellen Bedeutung von Adam Smith eingeführt und von Marx wie so vieles anderes aus der schottischen Schule aufgegriffen wurde. Marxens materialistische Geschichts- und Gesellschaftstheorie ist noch heute nützlich. Sie wäre heute eigentlich nützlicher denn je, da Heerscharen von Soziologen seit Mitte des 20sten Jahrhunderts mit Theoriegebäuden vernebeln, was ein interessierter und gebildeter Mensch eigentlich mit Augen sehen und mit Händen fassen könnte. In Zeiten, deren Lebenswirklichkeit materialistischer kaum vorstellbar ist, agiert die Gesellschafts- und Geisteswissenschaft irgendwo zwischen romantisch und voraufgeklärt. Wir können das nicht anders deuten als daß es interessengeleitet sein muß. (An Marxens politischer Ökonomie ist viel weniger für die heutige Zeit Nützliches, aber das soll hier kein Thema sein.)
Der Klassenbegriff leistet im Kampf gegen abzulehnende gesellschaftliche Verhältnisse hervorragende Dienste: real existierenden Klassenkampf als solchen zu erkennen, die eigene Klassenposition zu definieren und Klassenkampf gegen Klassenkampf zu stellen. Und nicht zuletzt: Die Abstraktion weg von allem Persönlichen und weg von soziologischen, hin zu gesellschaftstheoretischen und -politischen Kategorien erleichtert das Aussprechen von Widerspruch in einem repressiven, aggressiven gesellschaftlichen Klima sehr.
Von Marx und Lenin lernen kann man das Unbedingte ihrer Diktion. Schwarz oder weiß, keine Grautöne. Eine Aussage ist wahr oder sie ist falsch. Ein Begriff paßt entweder oder er ist selbst schon eine Lüge.
So soll eure Rede sein: Euer Ja sei ein Ja, euer Nein sei ein Nein. Alles andere ist von Übel. (Mt 5,37)
Daß sie sich in so manchem geirrt (besser vielleicht gesagt: verirrt) haben, tut dem keinen Abbruch. Sie wollten die Welt verändern und waren damit noch viel mehr Polemiker als Philosophen, und Polemiker ist man immer in seiner Zeit.
Wer etwas Einweisung in das Marx-Massiv benötigt, dem empfehlen wir "Marx zur Einführung" von Rolf Peter Sieferle.
Das wichtigste Kriterium der Definition einer Klasse ist ihre Stellung im Prozeß der materiellen Produktion. Das gilt für alle Klassen in allen Gesellschaftsformationen: die vorfeudalen, die feudale, die industriell-kapitalistische, die sozialistische.
Die Begriffe gelten wohl noch, aber den Bezeichnungen, den Worten aus dem 19ten Jahrhundert fehlt es bereits über weite Teile des 20sten Jahrhunderts hinweg an Aktualität und Frische, denn die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse haben sich stark gewandelt. Mit Wert und Gebrauchswert eines Rocks und allen Kalkulationen in Pfund und Schilling und Pence, die Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie rings darum angestellt hat, lassen sich heutige Produktionsverhältnisse nicht mehr adäquat veranschaulichen. Manche Worte klingen für das heutige Ohr einfach zu antiquiert, und wir wollen auch dem Zeitgeschmack etwas entgegenkommen, indem wir "Kapitalist", "Arbeiter", "Mehrwert", "Produktion" vermeiden. Wir sprechen lieber von Wertschöpfung, Sozialprodukt, arbeitender und besitzender Klasse und so weiter.
Wir verstehen arbeitende und besitzende Klassen beide als wertschöpfende Klassen. Die Vorstellung vom Kapitalisten als Grundrente verknusperndem Nichtstuer ist und war immer schon sozialistische Propaganda an der Grenze zum Schwachsinn. Auch wenn Bill Gates und Jeff Bezos damit persönlich sehr reich geworden sind, ist ihr Beitrag zur Wertschöpfung evident. Vielleicht müßten wir den Beitrag eines Mark Zuckerberg oder eines George Soros zum globalen Wohlstand etwas differenziert sehen, aber wir wollen hier keine moralischen Wertungen einfließen lassen. Auch der Manager, auch der Vorstandsvorsitzende, ist in der Regel nur Teil der arbeitenden Klasse, sozusagen Proletarier. (Und etliche von ihnen sind sogar nur Proleten, aber sei's drum, bloß keine moralischen Wertungen hier.) Die besitzende Klasse der echten Kapitalisten (unterstellt, daß es in der extrem arbeitsteiligen Ökonomie so einen ganz echten Kapitalisten tatsächlich noch gibt) ist nur ein Hilfskonstrukt, denn schon seit Marxens Zeit ist bekannt, daß der Kapitalismus sich nicht um den Kapitalisten dreht, sondern um das Kapital.
Die Klasse, über die wir hier verhandeln, zeichnet sich gerade durch maximale Ferne von materieller Wertschöpfung aus, es ist ein Nichtverhältnis, sie ist sozusagen eine Nichtproduktivkraft. Wir könnten sie als nichtwertschöpfende Klasse bezeichnen.
Das berühmte Diktum, daß die Philosophen die Welt nur verschieden interpretiert haben, es aber gälte, sie zu verändern, ist ein typisches Erzeugnis des 19ten Jahrhunderts. Wenn zuvor die Philosophie zur Wirkmacht in geschichtlichen Abläufen nur immer in ihrer Gestalt als Religion geworden war, machten sich vor 200 Jahren Philosophen, Intellektuelle, Kopf-Arbeiter außerhalb aller Kreise der materiellen Produktion, aber auch noch fern von jeglicher Machtpotenz daran, die Welt zu verändern. Intellektuelle gab es schon seit dem antiken Griechenland, die Anmaßung der Weltumgestaltung war erst mit der französischen Revolution möglich geworden. In den 1880er Jahren begannen die intellektuellen Ur-Bolschewisten in Rußland die neuen Ideen begierig aufzusaugen, mit der russischen Revolution konstituierte sich die Schicht der revolutionären Intelligenz zur Klasse.
Marx ging wie selbstverständlich von einer Dichotomie der Klassengesellschaft aus. In der Gesellschaft seiner Zeit hatte der Kapitalismus die Ständegesellschaft zum größten Teil aufgesogen und auf die beiden Klassen verteilt. Daß heute Klassengesellschaften, insbesondere auch die moderne, noch immer als dichotom angesehen werden, kann keine Selbstverständlichkeit mehr beanspruchen. Seit sich die Schicht der revolutionären Intelligenz zur Klasse formiert hat, was sich aus ihrer gesellschaftlichen Machtfülle und ab einem gewissen Punkt ohnehin aus ihrer schieren Zahl ableitet, muß sie, nichtwertschöpfend und sogar außerhalb der Prozesse materieller Produktion stehend, als gesonderte Klasse betrachtet werden.
Die von Marx als Trägerklasse der künftigen Revolution designierte Arbeiterklasse hatte schon Ende des 19ten Jahrhunderts ihr revolutionäres Potential verloren. Die prophezeite Verelendung stellte sich nicht ein, einerseits durch dem Kapitalismus inhärente Entwicklungstendenzen, andererseits durch vorausschauende nationale Gesetzgebung, mit der sich immer schon Preußen besonders hervorgetan hatte. Schon zur Zeit der russischen Revolution wollten große Teile der westeuropäischen Arbeiterschaft von sozialistischer Revolution nichts mehr wissen. Die arbeitende Klasse hat über weite Teile des 20sten Jahrhunderts nicht am Klassenkampf teilgenommen, mit dem sie auch überhaupt nicht mehr vertraut ist.
Marx hat also die falsche Klasse als Träger seiner proletarischen Revolution hin zum Kommunismus identifiziert. Es ist eine geschichtliche Ironie, daß die sozialistische Revolution mit Rußland und China in Ländern ihren Verlauf nahm, die noch weitgehend in vorindustriellen Verhältnissen steckten und von einem Kapitalismus weit entfernt waren. Die Revolution hat den Kapitalismus in Form des Staatskapitalismus überhaupt erst in diesen Lndern etabliert. Die nationalsozialistische Revolution in Deutschland fand zwar in einem ausentwickelten kapitalistischen System statt, aber auch bei dieser Revoltution war die arbeitende Klasse nur Mitläufer, nicht anders als heute, als der kleinbürgerliche Überbau sich Macht und Staat aneignete.
Die Klasse, die als Bolschewisten begann ihr Unwesen zu treiben, und die die Scheußlichkeiten des 20sten Jahrhunderts dominiert hat, hat sich über die Zwischenstufe einer freischwebenden Intelligenz in der marxistischen Praxis schließlich verschämt im Überbau versteckt. Koryphäen der sozialistischen Gesellschaftswissenschaft mag diese Verschleierung durchaus bewußt gewesen sein, es war ja ihre eigene Klasse, und wir nehmen Abstand davon, die Verschleierung als Ergebnis einer jahrhundertalten Verschwörung zu betrachten. Wir glauben nicht an Verschwörungen, wo Gesetzmäßigkeiten und Eigeninteressen regieren, und so wird es schon länger so sein wie Schelsky sagte: "Die neue Klasse hat alles Interesse daran, zu verhindern, daß ihr Herrschaftsanspruch als neuer Klassenkampf bewußt wird." Mehr noch: Sie wollte und will überhaupt nicht als Klasse wahrgenommen werden.
Hier beginnt unsere persönliche Erfahrung, da wir in einem Land lebten, daß von dieser Klasse beherrscht wurde, welche nicht die Arbeiterklasse und nicht die kapitalistische war. So weit uns das in unseren jungen Jahren interessierte, konnten wir die Absonderlichkeiten des Überbaus studieren, der wahrhaft gigantische Ausmaße annahm und weit über die Basis auskragte.
Wir könnten sie als "sozialistische Klasse" bezeichnen, wenn das Wort "sozialistisch" nicht hoffnungslos überfrachtet wäre und der Ausdruck nicht zu Verwechslungen mit der (tatsächlich sozialismusfernen) Arbeiterschaft führen würde.
Der im 20sten Jahrhundert sorgsam verborgene und doch so offensichtliche Überbau war eine dem Osten und dem Westen gemeinsame Erscheinung. Im Osten mit Staatsmacht ausgestattet, im Westen noch ohne. Aber auch ohne die Macht umfaßte er schon in den 1970er Jahren, zur Zeit von Schelskys Buch, eine gewaltige Zahl von Personen in Behörden und Verwaltung, an Schulen und Hochschulen, in Redaktionen und Sendeanstalten, in den Kirchen, in Gewerkschaften, gemeinnützigen Vereinen und Verbänden, in Gerichten und Kanzleien, in Ministerien und Regierungsapparat, in Parteien und Parlamenten. Heute wird diese Liste respektabler Funktionen noch ergänzt durch staatsnahe NGO, sozusagen Nicht-Nichtregierungsorganisationen und eine unübersichtliche Schar grenzwertig beschäftiger oder auf Einzelauftragsbasis engagierter Zuträger, Aktivisten und Straßenschläger. Dieses ganze Spektrum zeichnet als gemeinsames Merkmal aus, daß es im weitesten Sinne von Steuern, Abgaben, Beiträgen und Spenden lebt.
Die Staatsquoten im Europa der Union liegen zwischen 40% und 60%. In der Schweiz sind es 35%, in China 35%, USA 38% (davon 3% Militärausgaben), Rußland 33% (davon 4% Militärausgaben). Das sind die Länder, wo noch gearbeitet wird. Ziehen wir von durchschnittlich 50% Staatsquote die Investitionen (in Deutschland 3%) und Militärausgaben (in Deutschland 1%) ab, können wir etwa überschlagen, was der Überbau kostet. Die Staatsquote ist leider nur ein sehr grober Indikator. Sie enthält nicht die Kosten öffentlicher Unternehmen und beitragsfinanzierter Teile der Wirtschaft und nicht den staatlichen Rundfunk und nicht den gleichgeschalteten privaten Mediensektor.
Wir könnten die dem Überbau zugehörende Klasse die umverteilende oder staatsgenährte Klasse nennen.
Arbeitende Klasse, die von Arbeitslosen- oder dem schnell darauf folgenden Sozialgeld lebt oder von Rente oder Pension, zählt nicht dazu. Ihr Einkommen besteht aus selbsterarbeiteten und angesparten Versicherungsleistungen, nicht aus der Aneignung fremder Arbeit. Notorisch nicht produktiv arbeitende Randgruppen der Gesellschaft, die sich besonders in Groß- und Mittelstädten konzentrieren, können wir auch nicht dazu zählen, da ihnen alle wesentlichen Charakteristika der staatsgenährten Klasse, die wir weiter unten ausführen werden, fehlen und sie vielmehr zum breiten Feld der herrschaftsstützenden Klientel der staatsgenährten Klasse gehören.
Aus den Studentenzahlen der Hochschulen kann man einen groben Überblick über die spätere Verwendung der Absolventen in Wirtschaft und Gesellschaft erlangen, ob arbeitsfern, ob staatsnah. Das statistische Bundesamt veröffentlicht, daß von den gegenwärtig etwas unter 3 Millionen Studenten in Deutschland 47% Fächer studieren, die auf eine Beschäftigung in wertschöpfenden Berufen vorbereiten (MINT, Landwirtschaft, Medizin). Dagegen studieren 53% Sozial-, Geistes-, Kunstwissenschaften und ähnliches. Daraus können dann Gesellschaftsingenieure und Sprachingenieure werden. Es sind auch Politologen darunter, Theaterwissenschaftler, feministische Theologen, Genderwissenschaftler und sogar Unwissenschaftler. Das ist natürlich nur ein Gesamtbild. Von den Sozial- und Geisteswissenschaftlern landen auch einige in Managementpositionen von Unternehmen oder in der Informationstechnik, andererseits werden mathematisch-naturwissenschaftlich ausgebildete Leute Wissenschaftspropagandisten, zum Beispiel Klimatologen.
Wir nehmen Abstand davon, von einer "intellektuellen Klasse" oder der Intelligenz zu sprechen, da wir nicht die in Wertschöpfungsprozessen tätige technische und auch nicht die künstlerische Intelligenz einbeziehen wollen. Auch den Ausdruck "politische Klasse" lehnen wir ab, da sich nur die Wenigsten aus der umverteilenden Klasse als Berufspolitiker bezeichnen lassen müßten. Die Politik ist nur der oberste, präsenteste Rand unseres Problems.
Wer sich mit sozialen Schichten befassen mag, für den sind die Sinus-Milieus <https://www.sinus-institut.de/sinus-loesungen/sinus-milieus-deutschland> ein interessanter Anhaltspunkt. Es gibt sicher keine einfachere Überblicksgraphik, auf der man sich selbst verorten und mit der man auf die mehr oder weniger geschätzten Anderen zeigen kann. Die Milieus werden auch von der Journalistik gern für ihre jeweiligen Zwecke gebraucht. Die Sinus-Methodik hat den Vorzug einer mehr oder weniger zuverlässigen Quantifizierung, die über regelmäßige Nacherfassung Trends sichtbar macht. Außerdem bilden sie habituelle Grundeinstellungen der sozialen Gruppen auf gesellschaftliche Schichten ab, ohne der Mode der Verwechslung von Schichten mit Klassen zu erliegen. Ihr Nachteil ist, daß sie erheblich auf subjektiver Selbstzurechnung der erhobenen Gruppen beruht und nur teilweise auf objektiven Kriterien der Stellung im Wertschöpfungsprozeß und der Einkommensgenerierung. Die X-Achse ist wenig aussagekräftig, denn die Grundorientierungen sind bereits in der Definition der abgebildeten sozialen Gruppen enthalten. Auf der Y-Achse ist jedoch die Schichtenzuordnung nach Unter-, Mittel- und Oberschicht gezeigt, und diese scheint uns plausibel. Man sieht dabei unter anderem (wenn man die üblichen Verdächtigen unter den sozialen Gruppen einmal markiert), daß das Phänomen der neofeudalen Klasse sich über alle gesellschaftlichen Schichten verteilt. Das spiegelt den Praxisbefund wider, denn wenn man sich die beiden Beispiele Occupy Wall Street und Fridays For Future ansieht, repräsentiert ersteres die Unterschicht und letzteres die Oberschicht innerhalb der Klasse.
Ob die Nachfahren der kapitalismuskritischen Bewegung wirklich Antikapitalisten sind, werden wir noch sehen. Bereits gesehen haben wir, daß sie keine Arbeiter sind. Sie sind weniger als die Intelligenz und mehr als ein freischwebendes Irgendwas aus dem gesellschaftlichen Überbau. Wir bleiben bei der Benennung dessen, was seit Schelsky aus ihnen geworden ist, vorderhand bei staatsgenährte Klasse und betrachten zuerst die Entfaltung ihrer ideellen Vorläufer während des 20sten Jahrhunderts.
Geschichte wiederholt sich bekanntlich, und zwar immer wieder. Diese Klasse besitzt die Gene des Bolschewismus und all der weiteren Sozialismen des 20sten Jahrhunderts.
Die russischen Revolutionäre begannen als hochbelesene Sozialromantiker, jugendliche Spinner, Terroristen, Endzeitprediger und entstammten zur Überzahl dem Kleinbürgertum, dem unteren Klerus und dem niederen Adel. Sie waren zum großen Teil das, was dann viele bis hin zu Schelsky davon überzeugte, der Sozialismus werde von Intellektuellen gemacht. Stalin selbst und Kirow hatten lupenreine proletarische Herkunft und auch den richtigen Biß, letzterer jedenfalls bis ersterer ihn liquidierte. Swerdlow, Radek, Bucharin, Molotow und fast alle der vielen anderen waren weder Proletariat noch Bourgeoisie, sie gehörten etwa der gleichen Mittelschicht an, die sich über das ganze 20ste Jahrhundert in ihren jeweiligen Ländern ihren jeweiligen Sozialismus zimmern sollte.
Sie wollten einen Neuen Menschen schaffen, eine Idee, die in den 1920er Jahren schließlich alle Sozialisten und Faschisten übernahmen. Wer das Sozialreligiöse, das Avantgardistische, das Fanatische, das Gewalttätige, das Verräterische, das Korrupte dieser Klasse von Revolutionären verstehen will, der findet eine einzigartige Quelle in dem Wälzer "Das Haus der Regierung" von Juri Sljoskin.
In der russischen (bolschewistischen, Oktober-) Revolution hat die Klasse, um die es hier geht und deren Kontinuität über die Zeiten und Weiten hinweg wir hier darlegen wollen, eine durchaus fortschrittliche Rolle gespielt. Das Positive, Fortschrittliche an ihr war, daß sie Rußland aus damaliger spätfeudaler Starre ins Industriezeitalter katapultierte. Wir könnten darüber hinwegsehen, daß dafür Millionen sterben mußten. Das ist nun einmal bei Sozialisten so üblich, und Marx hätte das alles durchaus gerechtfertigt. Marx vertrat den auch heute wieder interessanten Gedanken, daß die Verhältnisse ruhig erst ganz schlimm werden dürfen, um sie schließlich zum Guten zu kehren. Aber spätestens 10 Jahre nach der Revolution, Ende der 1920er Jahre, konnte man "Menschen und Schweine nicht mehr unterscheiden", wie es in Orwells "Farm der Tiere" heißt. Die Sozialisten hatten ihre Pfründe gesichert, ließen ihre alten Kleinbürgerträume wieder aufleben, lebten sie in vollen Zügen aus und waren schon zu dieser Zeit ein übles reaktionäres Pack geworden. Daß dann die Stalinisten die womöglich noch übleren Trotzkisten und alle die aus der ersten Generation der Berufsrevolutionäre, die sie pragmatisch zu Trotzkisten erklärten, zu Tausenden liquidierten, kann nun wahrlich nicht mehr unsere moralische Empörung hervorrufen. Die Revolution frißt halt ihre Kinder.
Die marxistische Revolutionstheorie stammte sowieso von Lenin, und der war pragmatisch und noch weniger zimperlich. Er paßte die Theorie seiner Praxis an und nahm sich von Marx gerade so viel, wie er brauchte für seine Revolution. Stalin warf dann noch den Internationalismus über Bord, einerseits um sich von seinem Hauptkontrahenten Trotzki abzusetzen, andererseits, weil die Sowjetunion aus eigener Kraft lebensfähig wurde und die Arbeiterschaft und das revolutionäre Kleinbürgertum in Westeuropa zwar das Vorbild im Osten zwar brauchten, ansonsten aber mit ihren eigenen nationalen Sorgen beschäftigt waren.
Die Nationalsozialisten wateten durch Ströme von Blut wie alle revolutionären Sozialisten, versuchten den Neuen Menschen zu schaffen und mit ihrem ideologischen System die Welt zu erlösen wie alle radikalen Revolutionäre und rissen mit ihrem Untergang ihr ganzes Land ins Verderben wie alle gescheiterten Radikalen. Wir können in dieser Hinsicht kaum Unterschiede zwischen Bolschewist und Nationalsozialist ausmachen. Hinzugelernt hatten die Sozialisten, was ihr pragmatisches Verhältnis zum Kapitalismus angeht. Nominell wird der Kampf gegen das Kapital, besonders das Finanzkapital, aufrechterhalten, während der Kapitalismus noch so lange und in dem Maße gehegt wird wie gerade erforderlich zum Selbsterhalt der herrschenden Klasse, die derweil ihre politische Agenda verfolgt und sozial exekutiert.
Auch in Maos China holte eine Schar intellektueller Kleinbürger das Land in die Moderne, was eine fortschrittliche Sache war und wovon China heute extrem profitiert, kein Land ist schließlich moderner als China. Und außerdem machten auch diese Sozialisten, was Sozialisten immer besonders konsequent machen: Sie brachten Millionen um, und als sie ihre Macht gefährdet sahen, veranstalteten sie eine Kulturrevolution, zogen übers Land und füsilierten noch einmal Millionen, als das Volk schon hoffen wollte, daß der Furor die Revolution langsam verlassen könnte. Und die aufstrebenden westeuropäischen Kapitalismuskritiker, die sich, vollgestopft mit Kritischer Theorie, für Marxisten hielten und heute noch manchmal Kulturmarxisten genannt werden, besorgten sich die kleinen roten Büchlein und jubelten den Schlächtern von Peking, Phnom Penh und Hanoi zu.
Im Osten Europas hat die herrschende Klasse, die nicht die Arbeiterklasse war, mit der teils gelungenen, teils halbvollendeten Revolution in ihren jeweiligen Ländern praktisch über Nacht aufgehört, als Klasse zu existieren. Ihre cleversten Vertreter haben eine mehr oder weniger prekäre Zweitkarriere als Resteverwerter oder Geschäftemacher begonnen und haben es in Rußland teilweise bis auf die Oligarchenstufe geschafft.
Im Westen Europas hatte die gleiche Klasse zu diesem Zeitpunkt schon einen großen Teil ihres Aufstiegs in der Erstkarriere zurückgelegt. Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks kam sie kurz ins Straucheln, bis sie feststellte, daß die Zeit für sie schon reif war und sie den geliebten, geschmähten Ostsozialismus gar nicht als Konterpart zu ihrer westlichen kapitalistischen Heimat brauchte. Ihre Vertreter fanden heraus, daß sie selbst ohnehin die besseren Sozialisten waren und auch sich selbst genügen konnten. Schließlich hatten sie ja mittlerweile den Marsch durch die Institutionen fortgesetzt, sich von unteren Schaltstellen nach oben vorgearbeitet und waren im Zuge des ersten Generationenwechsels nach der Aufbruchzeit auf ganz natürlichem Wege an entscheidende Schaltstellen vorgerückt. Das Beitrittsgebiet bekam einige der Überhänge des Überbaus aus dem Westen, was dort die schon drangvolle Enge etwas linderte.
Das 20ste Jahrhundert hat den Bolschewismus, den Stalinismus, den Nationalsozialismus, den Maoismus, den Pol-Potismus und noch einige andere Sozialismen hinter sich gebracht, um in seinem letzten Drittel eine Bewegung im vormals freien Teil der Welt hervorzubringen, die in deren Tradition steht und sich anschickt, im 21sten Jahrhundert die nächste Variante von Sozialismus übers arbeitende Volk zu gießen. Sie erfindet schon wieder Neue Menschen und Große Sprünge nach vorn.
Ausbeutung als Aneignung von Mehrarbeit ist die Basis aller Klassengesellschaften. In den von Marx genannten vorkapitalistischen Formationen ist diese Ausbeutung, im Gegensatz zum Kapitalismus, nicht über den Tausch und Markt vermittelt, sondern beruht auf außerökonomischem Zwang. Im Kapitalismus ist die Aneignung des Mehrwertes hinter einer Markttransaktion verborgen, dem Verkauf der Ware Arbeitskraft. In den vorkapitalistischen Gesellschaften tritt die Ausbeutung unverhüllt auf als direkte, durch Gewalt oder Rechtsansprüche vermittelte Aneignung fremder Arbeit. In vorkapitalistischen Klassengesellschaften fällt den Ausbeutern ein Mehrprodukt in Form von Abgaben aller Art zu, die sie unproduktiv konsumieren. (Rolf Peter Sieferle)
Mit "umverteilende" oder "staatsgenährte" wäre diese Klasse vielleicht schon hinlänglich beschrieben gewesen, doch haben uns diese Sätze Sieferles darin bestärkt, diese Klasse schließlich die neofeudale zu nennen. Damit soll diese Klasse nicht als Wiedergänger des Ancien Régime oder der herrschenden Feudalklasse des europäischen Mittelalters dargestellt werden. Wie gezeigt hat die Klasse ihre Traditionslinien im Sozialismus des 20sten Jahrhunderts und mit der historischen Feudalklasse verbindet sie praktisch nichts außer frappierenden sozial-morphologischen Parallelen: • Nichtteilnahme am Prozeß der materiellen Produktion beziehungsweise Wertschöpfung; • Aneignung ökonomischer Verfügschaft über den Mehrwert materieller Produktion auf vorkapitalistisch-nichtökonomischem Wege administrativer Umverteilung; • Regulierung von persönlichem Wohlstand und Macht auf Basis gesellschaftlicher Besitztitel anstelle privaten Eigentums; • eine auf Lehensverhältnissen basierende Funktionszuweisung innerhalb der nicht anderweitig (grund-) gesetzlich geregelten staatlichen Organisationsform; • eine auf Unterwerfung und Huld basierende soziale Schichtung innerhalb der Klasse, verbunden mit Verlust der sozialen Klassenzugehörigkeit infolge Eintritts in den Zustand der Unhuld; • ihre ideologische Globalisierung unter gleichzeitiger zwangsweiser Beschränkung auf nur nationale oder superstaatliche (Reichs-) Ausformungen.
Die Bezeichnung "neofeudal" ist durchaus als Kampfbegriff gemeint. Diese Klasse ist seit 50 Jahren tatsächlich so reaktionär, wie das Wort nahelegt.
Der Begriff "Sozialismus" wird gemeinhin mit dem Kampf der Arbeiterklasse und der Schaffung einer neuen Gesellschaftsordnung durch die Arbeiterklasse identifiziert. Das ist aus der Perspektive des 19ten Jahrhunderts, der Zeit Bebels, als die Arbeiterklasse sich aus der damals tatsächlich noch drohenden Verelendungsfalle herauskämpfen mußte, auch korrekt. Die Perspektive hat sich beginnend mit der Erfindung des bolschewistischen Sozialismus aber verschoben. Die damals sich herausbildende neofeudale Klasse ist in diesem bolschewistischen Sinne in ihrer Aneignungsstrategie sozialistisch, und das ist die neue Bedeutung des Begriffes Sozialismus, die sich zuerst in Sowjetrußland etablierte: Sozialismus als Aneignungsstrategie. Die Karriere des Sozialismus begann in Deutschland mit dem Nationalsozialismus, dessen sozialistischer Teil wiederum eine Aneignungsstrategie war. Wir verweisen auf Ludwig von Mises, übrigens ein Vertreter des Liberalismus in des Wortes ursprünglicher konservativer Bedeutung, die noch etwas mit Freiheit zu tun hatte, der in "Bürokratie" bolschewistischen und nationalen Sozialismus als zwei Seiten der selben Medaille nachweist.
Die Entstehung der neofeudalen Klasse beruht auf produktiv geschaffenem Wohlstand. Die Bolschewisten und Maoisten fingen auf etwas niedrigerem Niveau an, hatten aber den Vorteil, daß sie über Waffengewalt verfügten und sich aneignen konnten, was sie brauchten. Die Bolschewisten konnten sich sogar von liebedienerischen Vertretern ihres Ancien Régime dabei helfen lassen, bevor sie sie beseitigten. Im Westeuropa und den USA der 1960er Jahre konnte die antikapitalistische Bewegung einenn geradezu explodierten Wohlstand nach dem Krieg genießen. In Deutschland befriedete Ludwig Erhards sozialistischer Kapitalismus einerseits die zerstörte Gesellschaft, andererseits bereitete er über etwa 20 Jahre die Wohlstandsplattform für künftige Experimente. Auf dieser konnte sich die neofeudale Klasse neu erschaffen und ihren kapitalistischen Sozialismus aufbauen.
Der Sozialismus ist nicht nur ostinater Bestandteil der Traditionslinie des Neofeudalismus, er gehört zu seinem Wesenskern.
Wir haben die Wege der Aneignung von gesellschaftlichem Reichtum skizziert und Indikatoren für deren Größenordnung angeführt. Es ist sicher eine lohnende Aufgabe, die Quantifizierung methodisch zu unterfüttern, zu präzisieren und beweisbar zu machen, um sie als Kampfmittel verwenden zu können. Die Überschlagsbetrachtung über Sozialprodukt und Staatsquote läßt enorme Werte erwarten.
Andererseits fällt uns keine individuelle Gier unter ihren charakteristischen Merkmalen ins Auge. Die Mehrheit ihrer Vertreter scheint nicht über das volkstypische Mittelmaß hinaus nach materiellem Reichtum zu streben. Mit ihrer urbanen Unterschicht formt sie sich sogar in zahlreichen Existenzen aus, die viele aus der arbeitenden Klasse als prekär bezeichnen würden. Wir wollen kein Psychogramm zeichnen, haben sogar eine große Abneigung gegen die zeitgeistige Psychologisierung von jedem und allem, kommen aber nicht weiter, wenn wir nicht eine plausible Hypothese bilden können, was die Individuen der Klasse und die Klasse im Ganzen antreibt.
Die Klasse, jede Klasse als Ganzes betrachtet strebt nach Macht. Dies ist wie ein gesellschaftstheoretisches Axiom, so fundamental, daß die Frage nach dem Warum und Wozu selten gestellt wird. Die Machtausweitung der neofeudalen Klasse innerhalb ihrer Staaten in Westeuropa ist weit fortgeschritten. Die Weiterentwicklung ihrer jeweiligen nationalen Herrschaft konzentriert sich auf • die Beherrschung der öffentlichen Kommunikation, des Sprechens und Denkens; • die Beherrschung der Volksmoral verästelt bis hin zu jeglichen moralisch relevanten individuellen Alltagsentscheidungen; • die Verbreiterung ihrer gesellschaftlichen Basis, insbesondere durch fortlaufende Rekrutierung der jungen Generationen; • Eingemeindung von Randgruppen, um die eigene Truppenstärke und Schlagkraft zu erhöhen, bis hin zur Förderung der gesellschaftlichen Fragmentierung, um neue solcher Randgruppen entstehen zu lassen. Auch Teilbewegungen innerhalb der neofeudalen Klasse (wir hatten bereits eine aus deren Oberschicht und eine aus deren Unterschicht erwähnt) agieren äußerst machtbewußt und herrschaftsstiftend. Während die Herrschaftsausweitung im Überstaat der europäischen Union spätestens seit dem gescheiterten europäischen Verfassungsprozeß stagniert und inzwischen an allen Rändern der Union massive Rückschritte macht, ist es Aufgabe der jugendlichen Avantgarde, die Globalisierung der Bewegung, sozusagen die neofeudale Internationale, neu zu befeuern.
Der forcierten Herrschaftsausweitung der Klasse steht also individuell die auffällige und durchaus löbliche materielle Genügsamkeit gegenüber. Wenn wir ein Wort für dieses idealistische Verhalten suchen, kommen wir nur auf "kleinbürgerliches Auskommen-Können". Das paßt natürlich zur Genese der Klasse, wir wollen das aber hier nicht soziologisch betrachten. Auch der gelegentlich sogar expressis verbis gehörte Ruf nach Vergesellschaftung von "Staatsknete" (die natürlich aufgrund ihrer Eigenschaft, Staatskenete zu sein, längst vergesellschaftet ist) steht dazu nicht im Widerspruch. Man sehe sich die Rufer an und wird bemerken, daß solche Äußerungen vom untersten Rand der Gesellschaft kommen und damit verzeihlich sind.
Der typische Vertreter der neofeudalen Klasse steht in einer letztendlich steuer-, abgaben- oder beitragsfinanzierten Beschäftigung, die eine Art von Grundeinkommen abwirft, das ausreichend komfortable Existenz verschafft und vorbehaltlich persönlichen (huldsichernden) Wohlverhaltens und gesamtwirtschaftlich ausreichend guter Konjunktur gesichert ist. Die Debatte um bedingungsloses Grundeinkommen ist also eine Scheindebatte, denn das schwach (nämlich zugehörigkeits-) bedingte Grundeinkommen gibt es längst. Wir können uns vorstellen, daß solches Auskommen-Können, im urbanen Umfeld wohlig abgeschirmt von den Realitäten der Welt, sobald man die Occupy- und Fridays-Phase hinter sich gebracht hat, sehr angenehm und motivierend ist.
Wir greifen auf persönliche Beobachtungen zurück. Fünfzehn Jahre unseres Lebens, die Jahre zwischen unserem sprachlichen Bewußtwerden und unserer eigenen bescheidenen rebellischen Phase östlichen Zuschnitts (bis wir dann beim Militär einigermaßen erwachsen wurden) haben wir im Plattenbau in einer ostberliner Kleinfunktionärssiedlung gelebt. Unsere familiäre Zugehörigkeit zur künstlerischen Intelligenz <http://www.kabert.org> hatte das ermöglicht, auch wenn wir damit eher zu einer randständigen Schicht des Überbaus gehörten. Umgeben waren wir von kleinen bis mittleren Kadern im Staats-, Partei- und Militärdienst. Ein ganzes Wohngebiet, das von neofeudaler Klasse in ihrer mitteldeutsch-halbbolschewistischen Ausprägung bevölkert war. (Damals, auch in unserer zornigen Periode, hätten wir das natürlich mit etwas anderen Worten beschrieben.) Sie alle lebten von mittelhohen Einkommen, folgten den geschriebenen und ungeschriebenen Regelwerken ihrer Klasse und ihrer Schicht, versuchten nicht aufzufallen, wollten nicht weniger, als sie hatten, aber auch nicht mehr, und waren, soweit wir das rückblickend beurteilen können, glücklich so. Im Großen hat sich viel verändert seitdem, im Einzelnen wenig.
Bei aller Genügsamkeit brauchen Menschen Beschäftigung, auch diese Klasse. Dinge, die sie Arbeit nennt und vielfach nur eine Belästigung des tatsächlich arbeitenden Volkes sind. Auch wer nicht der sozialen Gruppe der Berufspolitiker angehört, arbeitet als Gesellschaftsingenieur im weitesten Sinne mit. Er entwirft zum Beispiel den Neuen Menschen oder er erfindet Vorschriften, Verbote und Wenden. Regulierung und Bürokratie, die über das durch den Zwang zur Machtakkumulation Notwendige hinausgehen, sind Ausdrucksformen vagabundierender, nicht sinnvoll einsetzbarer menschlicher Schöpferkraft. Jede neu erfundene Wende, Energiewende, Verkehrswende, Agrarwende der letzten zehn Jahre ist ein Erzeugnis dieser Klasse, und das rasend steigende Tempo ihrer Innovationen könnte darauf hindeuten, daß sie sich bereits im Grenzbereich ihrer Selbsterhaltungsfähigkeit befindet. In Frankreich treiben diese Wenden das arbeitende Volk jetzt endlich auf die Straße. Auch unter der Bedingung individueller Genügsamkeit vernichtet die Selbsterhaltung der neofeudalen Klasse massiv wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Der mitteldeutsche Staat, all die sozialistischen Staaten des 20sten Jahrhunderts außer China, sind an ihrer Dysfunktionalität zugrunde gegangen. Mag die neofeudale Klasse auch individuell bescheiden sein, sie lebt von der Arbeit anderer und sie wächst immer weiter. Der beschränkte und begrenzende Faktor ist der gesamtgesellschaftliche Wohlstand. Wir haben keine Vorstellung, wann die nichtwertschöpfende Klasse in den Grenzbereich ihrer personellen und materiellen Ausdehnung vorgestoßen sein wird. Wir werden weiter unten noch etwas darüber spekulieren, was dann geschehen könnte.
Das Wort Refeudalisierung verwenden wir für unsere Darstellung nicht. Es insinuiert eine Rückkehr in die historische Feudalzeit, was in Europa das Mittelalter und die frühe Neuzeit ist. Solch eine Rückkehr kann es nicht geben unter den Bedingungen der heutigen Entwicklung der Produktivkräfte. Daran ändern auch die überhandnehmenden Nicht-Produktivkräfte nichts. Wir erkennen nur morphologischer Angleichung einer kommenden Sozialordnung an die Sozialordnung einer alten Gesellschaftsformation, was aber nicht als gute Nachricht zu verstehen ist. Also: Es wird kein Feudalismus sein, es wird sich nur so anfühlen.
Zum anderen wird gelegentlich von Refeudalisierung durch den Kapitalismus gesprochen. Habermas hat damit begonnen ("Strukturwandel der Öffentlichkeit"), ausgerechnet einer der herausragenden Vordenker der neofeudalen Klasse. Da möchten wir noch einmal das Schelsky-Zitat wiederholen: "Die neue Klasse hat alles Interesse daran, zu verhindern, daß ihr Herrschaftsanspruch als neuer Klassenkampf bewußt wird." Je nach aktueller Klassenkampfagenda müssen mal die Herren der Energiewirtschaft, die Banker und Finanzinvestoren, die Automobilkapitäne oder die Billionäre der neuen digitalen Plattformen für die Rolle als neue Feudalherren herhalten. Freilich, auch dafür werden sozial-morphologische basierte Argumente angeführt. Der Unfug liegt im ökonomischen Klassencharakter. Und sich über einen Vorstandsvorsitzenden mit zig Millionen Ruhegehalt zu mokieren ist vielleicht gerecht, aber an seinem ganzjährig beheiztem Karpfenteich sitzend ist er wenigstens keine Gefahr für die Allgemeinheit.
Das Kapital scheint uns nicht mehr so stark wie ehedem danach zu streben, Westeuropa zu beherrschen, feudal schon garnicht. Wer Ungereimtheiten des Kapitalismus für Refeudalisierung erklärt und die Kapitalisten zur feudalen Elite, verschleiert das Geschäft der Aneigner und Umverteiler.
Besitzende und arbeitende Klasse sind heute schwerer voneinander zu unterscheiden als zu Marxens Zeiten im 19ten Jahrhundert. Aber wer einmal Telekom-Aktien besessen hat und stattdessen heute Daimler-Aktien besitzt, weiß, daß er nicht zu den Besitzenden gehört. Wer aber heute (noch) bei Daimler arbeiten kann oder bei Siemens und dafür 80 Tausend Euro oder mehr Jahresgehalt bekommt, hat keinen Grund, antagonistische Widersprüche zu suchen. (Das ist auch mehr als der kleinbürgerliche Bourgeois-Bohèmien jemals in seinem Leben auf einem Haufen sehen wird.) Auch der Paketbote, der ausbildungsgerecht beschäftigt ist, ist dabei gar nicht so schlecht bezahlt. Die globalisierte besitzende Klasse hingegen wird zwar immer kleiner und ihre Anghörigen dafür immer besitzender. Aber der Kapitalismus des 19ten und 20sten Jahrhunderts hat für unser aller Wohlstand gesorgt und sogar noch für das bißchen Wohlstand, das bis im hintersten Zipfel der Dritten Welt angekommen ist. Die technischen und organisatorischen Innovationen der letzten 200 Jahre gehen auf sein Konto. Auswüchse des Kapitalismus zu bekämpfen ist ehrenvoll, aber viele von denen, die den Kapitalismus bekämpfen, wissen offenbar nicht, wovon sie eigentlich leben. Wer weder Sozialismus noch Kapitalismus mag, dem fühlen wir uns von Herzen zugetan, möchten aber darauf hinweisen, daß die Suche nach dem Dritten Weg ein ganzes Jahrhundert lang ergebnislos verlief. Vielleicht gibt es ja einfach keinen diesseits romantischer Schwärmerei.
Die neofeudale Klasse befindet sich nicht im Kampf gegen den Kapitalismus. Nach den ersten Versuchen leninscher Neuer Ökonomischer Politik, die situationsbedingt freilich noch äußerst utilitaristisch war, hat der Sozialismus über den Umweg des Staatskapitalismus zu einer meist fruchtbaren Koexistenz mit dem Kapitalismus gefunden. Wo der Kapitalist die Sozialisten respektiert und ihnen auch sonst nicht ins Gehege kommt, kann man gut miteinander auskommen. Der Nationalsozialismus hat es vorgemacht. Mit dieser Peinlichkeit ringen alle sozialistischen Strömungen der Welt seitdem und keine dümmliche These, wie die von der "Diktatur der reaktionärsten Elemente des Finanzkapitals" (Dimitroff), ist ihnen zu unwürdig, um diese übelste Ausgeburt des Komplexes sozialistischer Weltanschauungen zu bemänteln. Während die in Marxens Sinne gewiß vorhandenen antagonistische Widersprüche zwischen arbeitender und besitzender Klasse schlummern, aber nicht ausbrechen, haben sich die Widersprüche zwischen neofeudaler und besitzender Klasse als nichtantagonistisch erweisen.
Und dennoch können kapitalistische Wirtschaftsordnung und neofeudale Aneignung nicht auf Dauer koexistieren. Kapitalismus braucht ein stabiles Rechtssystem. In einer globalisierten Wirtschafts- und Finanzwelt vertreibt Anmaßung, mißbräuchliche Rechtsverwendung und Willkür das Kapital. Die besitzende Klasse, präziser: das Kapital flieht aus den scheiternden Staaten, verlagert seine Produktion, und wer weiter mitarbeiten will und in mobiler Verfassung ist, kann mitziehen. Das Finanzkapital ist schon längst woanders. Und den prekären mittelständischen Familienbetrieb will keiner weiterführen; die Kandidaten sind entweder mit der Karawane mitgezogen oder haben sich selbst für ein Leben an den Zitzen des Staates entschieden.
Der Umgang mit Energie- und Automobilindustrie und die Auswirkungen auf diese Industrien sind aktuelle Beispiele und sie sind besonders furchterregend dadurch, daß sie Deutschland bereits drei Jahre nach Start der Kampagne industriell entkernen. Wenn heute die deutsche Autoinstrie dem sozialistischen Furor zum Opfer fällt, ist das für das Kapital nur ein Kollateralschaden, ein Bauernopfer der Industrie. Die Party geht woanders weiter. Kernkraftwerke werden heute von russischen, französischen und chinesischen Firmen gebaut, nicht mehr von Siemens. Das ist ein Prozeß, der sich in Deutschland schon seit den 1970er Jahren hinzieht. Im arbeitenden Volk gibt es eine instinktive Sensibilität für das Umschlagen von Quantität in Qualität. Kippunkte werden erahnt, prognostiziert, wie die nächste Mega-Finanzkrise oder der Mega-Blackout, doch während jeder erkennen kann, welcher Weg zum Umkippen führt, kann keiner wissen, wann und wodurch das Umkippen letztlich ausgelöst wird.
Die Globalisierung begünstigt nicht die arbeitende Klasse im gleichen Maße wie das Kapital. Sie ist nicht global frei beweglich, jedenfalls nicht auf ihrem europäischem Lebensniveau. Die Globalisierung ist glücklicherweise auch noch nicht bei freier Beweglichkeit sozialer Systeme angelangt. Von einer Internationale der Neofeudalen, was deren gerade in den letzten fünf Jahren neu formuliertes Ziel ist, ist die Welt noch weit entfernt. Die neofeudale Klasse mag sich als globale Elite fühlen, ihre Avantgarde sich sogar als ortlos, bindungslos und heimatlos feiern. Für eine Klasse, die einzig am Tropf des Staates hängt, den sie sich angeeignet hat, ist das aber eine verwegene Deutung ihrer Lage. Selbst als Elite im pan-westeuropäischen Superstaat kann sie sich nur so lange fühlen, wie ihre europäische Union noch zusammenhält. Die neofeudalen Sozialisten werden auf absehbare Zeit nur im nationalen Maßstab herrschen können.
Schelsky führt aus der Perspektive der 1970er Jahre eine Reihe von Herrschaftsmitteln an, die die kapitalismuskritische Bewegung gerade begonnen hatte zu schaffen. Eine zentrale Rolle spielt für ihn die Säkularreligion der Bewegung. Das war der Stand der Dinge zu jener Zeit. An der Säkularreligion hatte ihre akademische Vorhut schon Jahrzehnte gearbeitet und sie war auch am leichtesten unters Volk zu bringen, da keine staatliche Infrastruktur der Machtausübung erforderlich ist, um eine neue Religion zu etablieren.
Andere Herrschaftsmittel finden bei Schelsky bereits Erwähnung, weitere sind Innovationen der letzten paar Jahre oder Importe aus US-Universitäten. Viele von diesen Herrschaftsmitteln haben das (gesellschafts-) politische Kalkül der Fragmentierung gemein. Das Prinzip Teile und herrsche zieht sich wie ein roter Faden durch die Taktik der neofeudalen Klasse und wird überall angewendet, wo sich der Gesellschaftskörper aufbrechen läßt. Ansatzpunkte für die Taktik der Fragmentierung sind die Familie, Frau gegen Mann, Multiethnizität (in West- und Nordeuropa die neu geschaffene) und Minderheiten (ob faktisch existierend oder neu konstruiert). Besonders phantasievoll geht es bei der Erschließung oder Erfindung neuer Randgruppen und Geschlechter zu.
Hinter dem regelmäßig beutzten Etikett der Individualisierung, der Liberalisierung, der Befreiung aus früherer Unterdrückung steht immer ein politisches Kalkül, und das wiederum läßt sich immer entweder auf ein ökonomisches oder klassenkampftaktisches zurückführen: • die zugänglichen materiellen Ressourcen mehren und weitere Teile des Sozialprodukts zur Umverteilung requirieren; • gesellschaftliche Randgruppen für für die eigenen Klassenziele erreichbar machen, integrieren und als eigenständige Kampfgruppen mobilisieren; • ihre Gegner neutralisieren unter Ausnutzung kulturell eingeprägter Reflexe innerhalb der beherrschten Klassen und Völker; • ihre nächste Generation heranziehen und schulen.
Die Herrschaftsmittel werden, wo sie langfristig und strategisch wirken, stark institutionalisiert eingesetzt, naturgemäß also in Erziehung, Ausbildung und Bildung, sowie dort, wo es gilt, die traditionelle Familie aufzubrechen. Die Formung von Öffentlichkeit und Sprache und die Etablierung säkularreligiöser Narrative verläuft in Form professionell geplanter und gesteuerter Kampagnen, die in immer kürzeren Abständen aufeinander folgen. Eine Zwischenstellung nimmt die neofeudale Klassenethik ein, die noch nicht institutionalisiert ist beziehungsweise deren Institutionalisierung im formellen Recht ist im Gange ist, und die andererseits kampagnenhaft durch Formung von Sprache und Denken ausgebaut wird.
Das Nachfolgende sind alles keine neuen Feststellungen. Wir möchten nur das sattsam Bekannte als Herrschaftsmittel einer Klasse und als Waffen in deren Klassenkampf einordnen.
Vielleicht verhält es sich mit der Säkularreligion der neofeudalen Klasse wie mit jeder anderen Religion: Die niederstgebildeten Schichten glauben, die höhergebildeten benutzen sie zynisch, die höchstgebildeten sind ihre erleuchteten Schöpfer, Bewahrer und Heiligen. Jenseits des konkreten Bekenntnisses ihrer Individuen ist die Klasse ihrem Wesen nach areligiös bis antireligiös. Aber wir befinden uns inzwischen auch im 21sten Jahrhundert, und so überrascht der Unterschied zu den Bolschewisten ab der Wende zum 20sten Jahrhundert nicht, die ihre Ideologie auf weltlich sublimierten Erlösungshoffnungen religiösen Ursprungs und Charakters aufzubauen begannen, wie eine chiliastische Sekte dachten und sich auch so organisierten. Diese quasireligiöse Verirrung reichte bis hin zu atemberaubenden Gewaltphantasien, die etliche der Revolutionäre dann auch auslebten. Der bereits erwähnte Juri Sljoskin widmet diesem religiösen Aspekt der russischen Revolution oder schlechthin aller Revolutionen ein ganzes langes Kapitel.
Andererseits beeindruckt uns nicht weniger als Schelsky die souveräne Erfindung von Narrativen religiösen Charakters. Teils ostinat reproduzierte, teils neu erfundene Schuldverhältnisse aus Sünde, Erbsünde und Vergebung werden dafür konstruiert: • ein Antifaschismus, der ohne die faktische Existenz eines Faschismus auskommt; • kulturelle Unterwerfung, die dem Abtragen kolonialer Schuld dienen soll; • immer neue Formen von Antidiskriminierung zur Korrektur sozialer und kultureller Differenzierung während der ganzen zurückliegenden Geschichte; • die Rettung des Weltklimas vor menschlicher Existenz, schöpferischer Arbeit und dem Streben nach Wohlstand und Freiheit.
Ginge es in diesem Essay um Individuen oder soziale Gruppen, würden wir in Anlehnung an Nietzsche wohl sagen, dies ist zynisch, nihilistisch, voller pathologischer Weltverachtung und Selbsthaß. Wir betrachten hier aber eine Klasse und können emotionales Engagemens und moralische Wertungen beiseite lassen. Die marxsche (nota bene nicht die marxistische) Methode wirkt disziplinierend auf das Denken, sie gebiert keine Verschwörungstheorien, sie erklärt die Welt für erkennbar und erkennt, daß das Bewußsein vom Sein bestimmt ist und daß das Handeln der Akteure Gesetzmäßigkeiten folgt. Wir können also die Ziele dieser Herrschaft mittels konstruierter Schuldverhältnisse identifizieren, die rein ökonomischer und taktischer Natur sind.
Was uns und mit uns viele zumindest der etwas älteren Generation, die aus dem Osten stammen, immer wieder in Erstaunen versetzt, ist die Aufnahmefähigkeit der westlichen Gesellschaften, ganz besonders leider der deutschen, für diese Propaganda. Insoweit können wir der Diagnose Schelskys folgen, der die Funktion der von ihm so genannten "Reflexionselite" als Sinnstifter und Heilslehrer herausstellt. Spiritualität ist offenbar nach wie vor ein gefragtes Gut, und je mehr die traditionelle Religion versagt, Sinn zu vermitteln, desto höher ist der Bedarf an Ersatz. Wir sind um so froher zu registrieren, daß auch die Kampagne zur Rettung des Weltklimas, die große Teilen der Jugend in Westeuropa in eine millenaristische Sekte verwandelt zu haben scheint, unter der osteuropäischen Jugend wenig Widerhall findet.
Das ist momentan die wichtigste Kampagne, aber nicht die einzige. Die immer kürzer werdenden Abstände zwischen den Kampagnen deuten darauf hin, daß die neofeudale Klasse unter Druck gerät und ihr Bedarf an materiellen Mitteln steigt, womöglich sogar gerade exponentiell. Das kann an personeller Ausweitung ihrer Basis liegen, aber auch an größeren Aufwendungen für multinationale und extraterritoriale Aktivitäten wie die sogenannte Seenotrettung. Auch ihre generelle Internationalisierung, die sie dringend benötigt, um den für sie schmerzlichen Folgen des Zerfalls der europäischen Union entgegenzuwirken, dürfte einige Mittel verschlingen. Dahinein Transparenz zu schaffen halten wir für eine lohnende sozialwissenschaftliche Aufgabe, gäbe es denn dafür Wissenschaftler.
Die nächste Welle von Kampagnen wird folgen, wenn die aktuelle ihre negativen wirtschaftlichen Folgen zeitigt, die ideologisch zu verdecken sein werden, der finanzielle Mittelzufluß stagniert und zurückgeht und neue Quellen erschlossen werden müssen. Die Avantgarde wird derweil für die Kulturrevolution geschult. Bald läßt momöglich einer ihrer Heilslehrer seine Kinderarmee ins Land ausschwärmen und heißt sie Leute liquidieren, die sie für Umwelt- und Nazisäue halten.
Schon die aktivistischen Bolschewisten der Revolutions- und 1920er Jahre wollten die Familie umgestalten und gebärdeten sich in ihren Pamphleten sehr sozialrevolutionär. Das eheliche Band sollte gelockert werden, Scheidungen waren formalrechtlich leicht zu erreichen. Wohnkonzepte wurden entwickelt, die das Zusammenleben flexibel und dynamisch gestalten sollten. Die Generationen sollten getrennt werden. Kinder sollten so früh wie möglich aus dem Familienverband herausgelöst und staatlichen Einrichtungen zu Betreuung und Erziehung anvertraut werden, mindestens für die Dauer des Arbeitstages und möglichst darüber hinaus. Dieser Spuk hatte wenig praktische Folgen, da die allgemeine wirtschaftliche Situation eine Auflösung der Institution Familie gar nicht zuließ. Unter Stalin, der andere Prioritäten hatte, hatte es mit diesen Ideen ein Ende. Die Grundlage dieser Umgestaltungsideen war auch nicht klassenökonomischer Natur, sondern sollte Ausdruck der Beseitung der traditionellen sozialen Verhältnisse sein. In ihrer Gesamtheit und ganz besonders hinsichtlich der Kindererziehung waren sie Teil des Konzepts Neuer Mensch.
Die neofeudale Klasse der heutigen Zeit hat ziemlich Ähnliches vor, aber primär aus ökonomischen Gründen. Daß der Kapitalismus im Verlauf 20sten Jahrhunderts eine Produktivität und die Arbeiterschaft eine Entlohung erlangt hatte, die es Ehefrauen erlaubte, zuhause zu bleiben, für Haus und Familie zu arbeiten, war ein gewaltiger sozialer Fortschritt, ein Gewinn an Lebensqualität und Freiheit. Im Namen von Feminismus, Gleichberechtigung und Selbstverwirklichung wurde dieser Fortschritt wieder geschleift. Wenn in Familien beide Eheleute arbeiten, ist das in vielen Fällen eine schlichte Notwendigkeit, zwar nicht für das nackte Überleben, aber um den Lebensstandard zu erhalten. Für die neofeudale Klasse liegt die Notwendigkeit darin, das Sozialprodukt zum Zweck der Umverteilung zu erhöhen, um die immer weiter wachsende Zahl ihrer Mitglieder durchzufüttern. Hinsichtlich der Erziehung der jungen Generation, wobei der Zugang zu den Köpfen gar nicht früh genug beginnen kann, ist ihr Plan der gleiche wie der ihrer bolschewistischen Vorläufer. Eltern schulpflichtiger Kinder müssen schon außerordentlichen Aufwand treiben, um ihren Kindern den Besuch von Schulen zu ermöglichen, in denen nicht eine mißliebige Ideologie vermittelt wird.
Die neue Volksverdummung sich fort in den Hochschulen, deren Uniformierung im Bolognaprozeß gelungen ist und die, wie schon die Schulen in dieser Ausbildungskette, Grundkompetenzen statt Bildung vermitteln sollen und ihre Absolventen zunehmend in einem Zustand der Unmündigkeit belassen. Sie sind beschäftigt mit der Produktion eines akademischen Proletariats, wie Schelsky Golo Mann zitiert.
Die Familie ist gegenwärtig der Kernbereich der Vergesellschaftung. Sie wird zur freien Verfügungsmasse der neofeudalen Klasse und ihres Staates, ihrer Volksbildungs- und schließlich Verwertungsinteressen. Die Institutionalisierung des Wandels in Form formellen und materiellen Rechts und der quantitativen Ausweitung des Schul- und des vorschulischen Betreuungssystems ist weit fortgeschritten, aber noch lange nicht abgeschlossen. Die nächsten gesetzlichen und in Deutschland grundgesetzlichen Regelungen bahnen sich an. Das ist keine Verschwörung, sondern die Durchsetzung egalitaristischer, feministischer und liberalistischer Paradigmen folgt ökonomischen Notwendigkeiten des gegebenen Klassensystems. Die neofeudale Klasse wünscht ein freies Volk, frei im Sinne von verfügbar: frei von geistigen Bindungen mangels Bildung und Urteilskraft, frei von örtlichen Bindungen der Heimat, frei von spirituellen Bindungen mangels traditioneller Religiosität, frei von menschlichen Bindungen der Familie. Sie sind aber selbst nicht nur Subjekt dieser Entgrenzung und Entmenschlichung, sondern Avantgarde und Objekt. Sie fristen selbst auch dieses Patchworkleben. Das ist ihr Triumph und ihre Tragik.
Ebenfalls zur Taktik des Teile und herrsche gehört der Mißbrauch, den die neofeudale Klasse mit sozialen Minderheiten und Einwanderern treibt, sowie die Benutzung von Randgruppen für ihre Zwecke. Die Minderheitenpolitik ist ein Ausdruck der Vergesellschaftung des Privaten. Für bestimmte, kampagnenhaft willkürlich ausgewählt scheinende Minderheiten werden Modi der gesellschaftlichen Partizipation neu festgelegt, wogegen wir an dieser Stelle auch nichts einzuwenden haben. Bedenklich ist, daß damit privatwirtschaftlich und rechtlich Sonderansprüche geschaffen werden und der Status der Minderheiten verrechtlicht wird. Minderheiteninteressen erhalten Gesetzes- und Verfassungsrang. Wo es an Klientel und Unterstützern zu mangeln scheint, wird versucht, neue Minderheiten zu kreieren und aus der gesellschaftlichen Gemeinschaft herauszuschälen.
Die Minderheitenpolitik tangiert kaum die wirtschaftliche Kraft einer Nation, da nur innerhalb bestehender Strukturen und auch nur in relativ geringem Volumen neu umverteilt wird. Eher empfunden wird das Schwinden tradierten gesellschaftlichen Zusammenhalts, was aber wiederum auch im Interesse der neofeudalen Klasse liegt, die damit an Herrschaftspotenz gewinnt. Teile und herrsche.
Hinsichtlich der Einwanderung haben verschiedene Länder ihre besonderen Traditionen und teilweise eigene Hypotheken aus der Vergangenheit: Frankreich, England, Holland. Mit besonders gefährlichen Entwicklungen fallen aber gerade Länder auf, die über keine oder keine nennenswerte koloniale Vergangenheit zurückblicken, wie Deutschland und Schweden. In Deutschland kann man buchstäblich ein Eskalationsszenario beobachten: Einwanderung, die weder auf kulturelle Aufnahmebereitschaft trifft noch wirtschaftlich abgefedert ist, schon gar nicht sozialstaatlich, wurde auf der ersten Stufe nicht verhindert, auf der zweiten Stufe in einer Weise befördert, die man vielleicht aktive Duldung nennen kann, und auf der dritten Stufe wissentlich und willentlich herbeigeführt. (Wir lassen dabei die wirtschaftlich und politisch forcierte Einwanderung von Gastarbeitern in den 1960er Jahren nach Deutschland außer Betracht, sie gehört nicht in unseren Betrachtungsbereich.) Was geschieht, mutet irrational an, aber es ist Ausdruck der neofeudalen Klienteltaktik.
Hier offenbart sich einer der inneren Widersprüche der neofeudalen Klassen, an diesem unter anderen könnte diese Klasse scheitern. Als Klientel mögen Einwanderer der die neofeudale Klasse nützlich scheinen, weil sie für diese Klasse den Grad gesellschaftlicher Kontrolle weiter erhöhen. Andererseits teilen sich Sozialstaatsausgaben, aus denen unter anderem die Einwanderer versorgt werden müssen, und die eigene Alimentierung der neofeudalen Klasse die Ressource der staatlichen Einnahmen, welche frei umverteilbar sind, also nicht als Investitions-, Verteidigungs- und ähnliche Ausgaben erscheinen. Das schelskysche Diktum "Wovon werden wir morgen leben?" gilt damit nicht nur für die arbeitende Klasse, der eines Tages das Kapital fortgewandert sein wird, sondern auch für die herrschende Klasse, die "Menschen geschenkt bekommen" hat.
Es ist ein Grundfehler der neofeudalen Klasse: Sie schaffen Multiethnizität und Multikulturalität in ihrem eigenen Land, weil sie meinen, damit ihre Gefechtsstärke zu erhöhen, doch die, die kommen, bauen ihre eigene Macht auf. Kulturkreise mischen sich nicht. In Gestalt von Individuen mögen sie sich paaren, als Kulturen verdrängen sie einander. Arnold Toynbee ("Der Gang der Weltgeschichte") sieht beim Untergang einer Zivilisation immer ein inneres Proletariat am Werk, das sich von dieser Zivilisation abspaltet, oft im Zusammenwirken mit einem importierten äußeren Proletariat. Das sind kulturgeschichtliche Begriffe, wir benutzen hier gesellschaftspolitische und ökonomische. Zu beleuchten, inwieweit die Kategorien für unseren abendländischen Betrachtungsfall jeweils deckungsgleich sind, heben wir uns für ein andermal auf.
Das Prinzip der Gleichschaltung wird in sozialistischer Tradition angewendet. In den 2010er Jahren wurde die gesamte traditionelle Medienlandschaft (Presse, Rundfunk, Fernsehen, sowohl staatliche als auch die privaten Medien) endgültig auf einen einheitlichen Korridor veröffentlichter Meinung dirigiert. Das vollbrachte die neofeudale Klasse wie auf dem ganzen Marsch durch die Institutionen durch Besetzung der Neben- und schließlich Schlüsselpositionen durch das eigene Personal. Von einigen Abtrünnigen herausgegebene Publikationen führen Nischenexistenzen für den Teil der Öffentlichkeit, der gezielt nach deren dissidentem Spektrum sucht. Das Sprachlosmachen der Medien setzt sich mit Einsparung von Korrespondenten- und Recherchekapazitäten fort, dafür springen staatlich unterhaltene Redaktionsnetzwerke ein, die zentral die Meldungen vorgeben mit genau dem Detailgrad, dessen Veröffentlichung gewünscht ist.
Das öffentliche Internet bringt ein Stück der Freiheit der Information und Kommunikation zurück, allerdings auch nur für denjenigen, der gezielt danach sucht, sich entsprechend vernetzt und, sofern er selbst publizieren möchte, sich zudem erlauben kann, der Ächtung zu verfallen. In Deutschland ist freie Rede schon wenige Jahre nach deren Aufkommen wieder nur noch jenseits der Plattformen sozialer Netzwerke möglich. Deren Einhegung und die Übernahme der Kontrolle durch die neofeudale Klasse ist ein Paradebeispiel für das Zusammenspiel mit den Mechanismen des Kapitalismus und für die Unterwerfung des Kapitalismus unter die neofeudale Übermacht. Wo sich Geschäfte besser mit ihr machen lassen, wird der Kapitalismus nicht gegen sie handeln.
Herrschaft über die Sprache, also die Bestimmung des sanktionsfrei Sagbaren und der Formeln, die zum Ausdruck des Sagbaren zugelassen sind, wird fast vollständig über Massenmedien vermittelt. Irgendwann sprechen eben die meisten so, wie sie es im Fernsehen hören. Eine weitere Steuerung in die Bildungsanstalten hinein erübrigt sich fast, allerdings gibt es in den Universitäten spezialisierte Sprachpolizeien. Beschallung der Massen und alternative Informationsbeschaffung und -verteilung auf Graswurzelniveau, letzteres vielleicht bald sogar kriminalisiert, kennt jeder, der in anderen Sozialismen aufgewachsen ist, noch aus alten Zeiten.
Auf vieles sind wir hier nicht oder nur peripher eingegangen: • Besetzung der Parteien und Parlamente, • Gesetzgebung und Rechtsprechung, • Polizeien und Geheimpolizeien, • Militär, • Verwaltungsbehörden. Das meiste davon ist Teil des traditionellen staatlichen Handelns, und da, wie wir schon festgestellt haben, der neofeudalen Klasse der Staat gehört (als Machinstrument der herrschenden Klasse, eine der marxschen Wahrheiten, deren Gültigkeit über die Grenzen marxistischer Weltanschauung hinausreicht), erübrigt sich eine Aufzählung, welche der staatlichen Institutionen ihr zu Diensten sind. Womit wir eine Aussage über die Institution machen, aber, wie grundsätzlich in diesem Essay, keinerlei wertende individuelle Aussage über jedwede Mitarbeiter.
Ein interessantes Kapitel sind sicher die sogenannten bewaffneten Organe, deren Mitglieder, zumindest auf Mannschaftsebene, wir zur arbeitenden Klasse zählen würden und damit im Dienst einer fremden Klasse stehen sehen. Und es ist ja kein Geheimnis, daß die Beziehung zwischen dem zivilen Teil des Staatswesens und seinem bewaffneten Teil tatsächlich nicht frei von Spannungen ist. Wir wissen und verstehen aber wenig von der Polizei und ihren inneren Verhältnissen.
Auf der politischen Ebene können nichtunterdrückte Subjekte (Parteien, Vereine und Verbände, Personen) auf demokratischem Wege das Recht und seine Anwendung gestalten. Aber die Demokratie unterliegt der Verfaßtheit des Staates und ist Teil des staatlichen Überbaus. Die jeweils herrschende Klasse nutzt und formt die Demokratie für ihre Zwecke. Wo es ihren Zwecken dient, schränkt sie die Demokratie schleichend oder offen ein oder entzieht Teile des politischen Lebens den demokratischen Mechanismen. Im heutigen Westeuropa ist Entdemokratisierung auf demokratischem (zum Beispiel durch Manipulation von Sprache und Öffentlichkeit) und administrativem Wege (wie die Abgabe von Exekutivgewalt an den Überstaat der europäischen Union oder, in kleinerem Maßstab, an halbstaatliche und der demokratischen Kontrolle entzogene Organisationen) üblich.
Klassenherrschaft wurde geschichtlich meist in Revolutionen gebrochen, so wie es 1789 in Frankreich geschah, 1917 in Rußland, Anfang der 1930er Jahre und in Deutschland und Ende der 1980er Jahren in Rußland und den osteuropäischen Staaten, was jedes Mal zu neuen Staatlichkeiten führt. Die vollständige Entmachtung des alten Systems erfolgt durch Außerkraftsetzen der jeweiligen Verfassung, Neuschaffung einer Verfassung und Revision des Rechts. Es wäre gewiß eine interessante demokratiehistorische Untersuchung, festzustellen, wie, in welchen Schritten und durch welche konkreten politischen Maßnahmen die neofeudale Klasse etwa zwischen den Jahren 1970 und 2005 in den Ländern Westeuropas auf offensichtlich nicht klassisch-revolutionärem Weg an die Macht kam. Uns ist keine derartige Arbeit bekannt.
Die nationalsozialistische Revolution in Deutschland, die wir etwa auf die Jahre 1932 bis 1936 datieren würden, hat die Besonderheit, auf demokratischem Wege eingeleitet worden zu sein. Vielleicht könnte man folgern, ein Gesellschaftssystem, eine Klassenherrschaft, die bereits erheblich geschwächt sind, sind durchaus im Rahmen demokratischer Möglichkeiten initial zu Fall zu bringen. Auch im Umbruch 1945 bis 1949 in Deutschland können wir keine Revolution im klassischen Sinne sehen. In diesem Fall ist eine Klassenherrschaft durch die Folgen ihres eigenen Wirkens zusammengebrochen: Krieg im Äußeren, Terror im Inneren, Zerstörung der eigenen Wirtschaftskraft sogar bereits in den 1930er Jahren.
Wer einen Neuen Menschen schaffen will, braucht für ihn eine neue Ethik. Die normative Ethik, die sich die neofeudale Klasse erarbeitet, sozusagen die Neofeudalmoral, hebt sich ab von der traditionellen, bürgerlichen Ethik, die die wertschöpfemden Klassen mittlerweise (nahezu) teilen. Die neue Ethik steht der bürgerlichen in allem, das mit Nation, Volk, Tradition, Familie, Religion zusammenhängt, sogar diametral gegenüber. Dennoch gelingt es ihr, in das Bürgertum einzusickern, besonders dessen gebildete Schichten.
Die neofeudale Klasse entwickelt die Ethik weiter bezüglich des Umgangs mit Minderheiten oder der ökologischen Umwelt, wogegen nichts grundsätzlich einzuwenden ist. Sie füllt bisher irrelevante Felder wie Multiethnizität, für die ihr eigenes Wirken erst Bedarf geschaffen hat. Sie erfindet neue Felder wie Multikulturalität und Genderfragen, die sich aus ihrer Teile-und-herrsche-Taktik ergeben. Die neue Ethik dehnt ihren sozialen Regulierungsdruck bereits bis in Details von Alltagsentscheidungen aus.
Die Ethik scheint uns faktisch das Hauptfeld des Klassenkampfes heute zu sein, welches doch nach hergebrachter Logik des Klassenkampfes im Ökonomischen liegen sollte. Das würde aber Erkenntnis und Verständnis dieses Ökonomischen voraussetzen, was beklagenswert unterentwickelt ist und zu dem wir mit diesem Essay einen bescheidenen Beitrag leisten wollen.
Wer ein klein wenig in den Naturwissenschaften zuhause ist, weiß mit dem Begriff Modell etwas anzufangen. Mit einem Modell beschreibt man die Wirklichkeit, man macht sich mit einem Modell überhaupt erst eine wissenschaftlich geordnete Vorstellung von einer zu beschreibenden Wirklichkeit. Dabei vereinfacht das Modell und es abstrahiert von Details, die für für das Verständnis der Zusammenhänge nicht wichtig sind und nur die Übersichtlichkeit stören würden.
Für die Naturbeschreibung hat bis zum 17ten Jahrhundert das Modell der klassischen Mechanik, schon den Griechen als Wissenschaft vertraut, ausgereicht. Noch einmal wesentlich bereichert durch Newton, war die Mechanik auch ausreichend für das Verständnis kosmischer Zuammenhänge, gemäß den Qualitätskriterien der Zeit. Ergänzt um Thermodynamik und eher phänomenologisches Verständnis der Elektrizität, war sie auch noch für 200 Jahre Industriezeitalter gut, die klassische Mechanik ist also ein Modell, mit dem man etwas anfangen kann.
Wo es um große Massen geht oder um Dinge, die sich mit hoher Geschwindigkeit bewegen, braucht man in der Physik ein neues Modell, da das alte nicht mehr alle beobachtbaren Erscheinungen erklären kann. Die nächste Stufe ist die Relativitätstheorie. Sie ersetzt nicht die klassische Mechanik und Thermodnamik, die nach wie vor gelten und auf der Erdoberfläche nach wie vor ausreichend gute Dienste leisten. Die Relativitätstheorie ist ein Modellierungsschritt vom Verständnis oberflächlicher Erscheinungen hin zur Erkenntnis des Wesenskerns der Physik. Die Wissenschaft ringt nun schon länger mit der Quantentheorie und ist schon in der Lage, mit dem noch erst phänomenologischen Verständnis Quantencomputer zu bauen. Hat man die Quantentheorie weit genug erfaßt, daß sie als Modell taugt (nämlich nützlich, verständlich und in sich abgeschlossen ist), wird man mit ihr weiter zum Wesen der Physik vorgedrungen sein.
Ähnlich funktioniert es in der Gesellschaftstheorie.
Die Soziologie erforscht und beschreibt das Verhalten von Gruppen in der Gesellschaft. Kategorien können politische sein (Rechte und Linke), soziale (Bildungsstand, Einkommen, natürliches Geschlecht), kulturelle (Religion, Volkszugehörigkeit, Ethnie, gefühltes Geschlecht) und so weiter. Das reicht so lange aus, bis große Massen sich bewegen oder die gesellschaftliche Bewegung sich sehr beschleunigt. Ist das der Fall, konstatiert die Soziologie zum Beispiel:
Wir erleben seit fünf Jahren einen Umschwung, bei dem der Fortschrittsoptimismus umgekippt ist.
Es gibt ereignishafte Zuspitzungen wie den Brexit und die Trump-Wahl.
Während 1990 das Gefühl vorherrschte, der Westen habe gesiegt und der Liberalismus sei alternativlos geworden, beginnt wieder ein ideologisches Zeitalter.
Aus der Polarisierung Links-Rechts ist eine Dreierstruktur aus akademischer Mittelklasse, traditioneller Mittelklasse und prekärer Klasse geworden.
Neue Konfliktfelder entstehen wie zwischen Gelbwesten und Fridays For Future.
Die gesellschaftliche Auffächerung ist nicht nur Pluralisierung der Lebensstile. Es gibt neue Hierarchien, das macht die Sache so explosiv.
Quer zur Links-Rechts-Differenz gibt es breitere und grundsätzlichere politische Paradigmen, die nicht erkannt wurden.
Die 68er Studentenbewegung und Margaret Thatcher sind zwar nicht Hand in Hand gegangen, aber sie haben beide am selben Ziel gearbeitet.
Beide Bewegungen haben ihre jeweilige individualistische Orientierung gemein.
Diese Gedanken haben wir aus einem Interview der NZZ <https://www.nzz.ch/video/nzz-standpunkte/die-krise-des-liberalismus-und-die-neuerfindung-der-freiheit-ld.1543768> mit dem Soziologen und Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz herausgepickt. Aus den Worten hören wir das Eingeständnis heraus: Wir alle verstehen die Welt nicht mehr.
Die Soziologie kapriziert sich seit der Nachkriegszeit auf immer feiner abgegrenzte Randthemen. Das mag daran liegen, daß nur diese Herangehensweise ausreichend von Auftraggebern, Wissenschafts- und Hochschulbetrieb und Fachwelt honoriert wird. In unseren Augen ist das eine Wissenschafts-Simulation, keine Wissenschaft. Das liegt auch daran, daß Großteile der Soziologenschaft nicht unabhängig, sondern Teil der Klasse sind, über die wir hier verhandeln. In ihrem Klasseninteresse liegt es, den Wesenskern hinter den Erscheinungen zu verbergen. Diesen Vorwurf wollen wir aber dem oben zitierten Soziologen ausdrücklich nicht machen. Wir wollen darauf hinaus, daß Soziologie als Wissenschaft (als Nicht-Scherge der Politik) sich von der Beschreibung und Kategorisierung der Erscheinungen an der Oberfläche lösen und zum Wesenskern vordringen muß. Die zitierten Schelsky und Sieferle (und überhaupt nicht abgesehen von Marx) haben das getan, jeweils auf ihe Weise, mußten sich dafür vom Wissenschaftsbetrieb lösen und zogen heftige Anfeindungen all derer auf sich, die sich von ihren Schlußfolgeren getroffen fühlen dürfen.
Wir halten übrigens die ökonomische, extrem-materialistische Methode zur Entwicklung eines Gesellschaftsmodells für sehr zielführend, sonst hätten wir nicht diesen Versuch hier in solcher Richtung unternommen. Dafür mußten wir nicht Marxist sein. Wir behaupten auch nicht, daß dies Weg einzig richtige Weg ist, die Erscheinungen unserer Zeit zu verstehen.
Wir wollten hier nicht über "links" und "rechts" sprechen und tun das jetzt auch nur insofern, als wir feststellen, daß die neofeudale Klasse per se politisch weder links noch rechts verortet ist. Ohnehin mangelt es diesen Begriffen an Trennschärfe. (Gewiß wird dem Leser jetzt das Jandl-Zitat in den Sinn kommen.) Die neofeudale Klasse ist von ihrem ökonomischen Interesse geleitet, schmiegt sich an den Zeitgeist und wird jede Wende zu mehr Konservatismus und sogar zum Nationalismus mitmachen. Wird rechtes Denken und Meinen wieder gesellschaftsfähig, was in einer größeren wirtschaftlichen oder technischen Krise schnell geschehen kann, oder gewinnt es sogar die Oberhand, wird die neofeudale Klasse diesen Trend aufnehmen, beginnend vom Kopf, bis schließlich zu den (vor-) letzten Gliedern.
Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. (Marx, "Zur Kritik der Politischen Ökonomie")
Da wir also nicht glauben, daß rein politischer Widerstand gegen die neofeudale Klasse und ihr weiteres Erstarken wirksam sein kann, es sei denn, es gelänge, dieser Klasse die ökonomische Lebensader abzuschneiden, haben wir hier keine Widerstände in der Art politisch-demokratischen Kampfes anzuführen. Wenn etwas die Unterjochung durch die neofeudale Klasse aufhalten kann, dann, daß sie an ihren inneren Widersprüchen scheitert, so wie es allen Sozialismen des 20sten Jahrhunderts erging, abgesehen vom chinesischen.
Marx als politischer Ökonom des Kapitalismus und Engels als Editor seiner Werke haben wenig dazu gesagt, was Sozialismus sei. Nach der leninistisch-stalinistischen Lehre von Revolution und wissenschaftlichem Kommunismus ist der Sozialismus die Zwischenstufe zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Unter den sozialistischen Regimen des frühen 20sten Jahrhunderts war Sozialismus faktisch die Bezeichnung für einen planwirtschaftlichen Staatskapitalismus. Seit dem späten 20sten Jahrhundert beweist der Sozialismus seine Kompatibilität mit dem martktwirtschaftlichen Privatkapitalismus. Da die Grenze zum Staatskapitalismus fließend ist, wie China, Rußland und Westeuropa zeigen, dient Sozialismus jetzt als Bezeichnung für das Teilfeld und den Grad der Vergesellschaftung von Produktionsmitteln und Mehrprodukt. Daß es seit Bolschewismus und Nationalsozialismus übel beleumdet ist, macht das Wort tauglich zum Kampfbegriff.
Klassen stehen miteinander im Klassenkampf, nicht in irgendeiner Art von "gesellschaftlichem Diskurs". Sie kämpfen um das Mehrprodukt, das • die arbeitende Klasse nicht zur Reproduktion ihrer Arbeitskraft benötigt oder erhält und • das Kapial zur Akkumulation und zur Wahrung seiner Position im globalen Konkurrenzkampf verwendet. Was von den Reproduktionsaufgaben des Mehrprodukts abgezweigt wird, fließt in den Überbau, also den Staat, und den privaten Konsum des Kapitalisten. Um die Anteile an Mehrprodukt oder gar dessen komplette Aneignung dreht sich der Klassenkampf. So weit die reine Lehre.
Die arbeitende Klasse in Westeuropa hat sich mit der Produktionsweise arrangiert, seit die Löhne auf ein verelendungsfreies Maß gestiegen sind und die nominalen Löhne mit dem nominalen Wert des Geldes etwa schritthalten. Das ist schon über den größten Teil des 20sten Jahrhunderts der Fall. Entsprechend gering ist ihr Potential für Klassenkampf. Jetzt muß das Mehrprodukt eine wachsende weitere Klasse ernähren mit ihren wachsenden gesellschaftspolitischen und globalen Zielen. Die neofeudale Klasse mußte kämpfen, um sich formieren, die Macht im Staat übernehmen und sich ihren Anteil am Mehrprodukt aneignen zu können.
Frankreich ist das Land, wo die geschichtlichen Klassenkämpfe mehr als anderswo jedesmal bis zur Entscheidung durchgefochten wurden. (Engels, Vorwort zum "18ten Brumaire")
Angewendet auf den Aufstand der Gelbwesten, ist das Zitat hochtrabend schmeichelhaft, zumal wir nicht wirklich glauben, daß dort gerade etwas bis zur Entscheidung durchgefochten wird, aber er ist das einzige Beispiel für Auseinandersetzungen Klasse gegen Klasse in Westeuropa. Davon abgesehen ist heute in Westeuropa die neofeudale die einzige Klasse, die aktiven Klassenkampf führt. Während das Kapital eher ausweicht als kämpft und die arbeitende Klasse in halbbourgeoisem Wohlleben erschlafft ist, ist die neofeudale Klasse zurückgehend bis auf die 1960er Jahre hervorragend organisiert und ideologisch gerüstet, jeweils auf ihrer nationalen Ebene. Weil es keine Gegenwehr gibt, kann sie ihre Ansprüche exponentiell ausdehnen.
Das Beispiel Englands zeigt, wie leicht das System zu schlagen ist, wenn günstige Bedingungen eintreffen. Dort hat die neofeudale Klasse nur einen einzigen leichtsinnigen Fehler gemacht: sie hat in einem Moment der Schwäche das Volk gefragt. Das Ergebnis von nur 51% für den Ausstieg zeigt, wie dicht das Land schon an einer unlösbaren Bindung an das Übel war. Daß die Bestätigung des Ergebnisses im Jahr 2019 dann mit 56% erfolgte, war dann nur insofern überraschend, als es nach dem unwürdigen Agieren der europäischen Union nicht höher ausfiel.
Bei der Entscheidung über den Brexit sind allerdings nicht die wertschöpfenden Klassen gegen die neofeudale angetreten. Unter den Stimmen für den Verbleib in der europäischen Union sind viele aus der arbeitenden Klasse gewesen, die ihren Vorteil in einem Verbleib sahen. Das heißt nicht, daß diese mit Vollzug des Austritts künftig schlechter gestellt sein werden. England, das neben Italien das Ursprungsland des kapitalistischen Fortschritts ist, wird die wiedergewonnenen Vorteile seiner geostrategischen Position nutzen und ist in der Lage, seine Allianzen selbst zu suchen.
Mitteldeutschland ist administrativ völlig in den Staat integriert, aber ideologisch ist das eingesessene Volk unerreichbar. Das politische Denken dort ist nicht weiter entwickelt als das im Westen und die neofeudale Ordnung erfährt nicht Ablehnung, weil sie als das erkannt würde, was sie ist, sondern weil das Volk dort eine Attitüde allgemeiner Verweigerung entwickelt hat. Der Osteuropäer ist es gewohnt, den Staat zum Gegner zu haben. Auch das Vertrauen, daß das Leben funktioniert, wenn man andere für sich denken läßt, ist im Osten wenig verankert. Paradoxerweise führt gerade das Fehlen einer demokratischen, selbstgewissen Zwischenphase, wie sie Westdeutschland in den 1950er bis etwa zu den 1970er Jahren hatte, im Osten heute zu einer geringeren politischen und ideologischen Verführbarkeit. Die Lethargie ist aber enorm. Wo sich in Mitteldeutschland tatsächlich aktiver Widerstand zeigt, geht das in der Regel auf die Aktivität exilierter westdeutsche Kader der verschiedenen zersplitterten Gegenbewegungen zurück.
Während dem Kapital seine Globalisierung gelungen ist, sind bislang alle Bemühungen sozialistischer Bewegungen um ihre Internationalisierung gescheitert. Gleiches geschieht gegenwärtig der neofeudalen Klasse.
Sie verfolgt drei Internationalisierungsprojekte: die europäische Union, innerhalb der UNO und die Einführung eines globalen Klimaregimes. Das erste davon ist auch und ursprünglich ein Globalisierungsprojekt des Kapitals, hat für dieses aber die Wichtigkeit verloren, wie sich am Desinteresse der USA ablesen läßt. Für die Großmächte ist Europa nur noch als Absatzmarkt und als geopolitisch-militärische Zone relevant.
Der Aktionsraum der neofeudalen Klasse ist Westeuropa. Seit den 1990er Jahren erkennt die neofeudale Klasse die europäische Union als ihr Internationalisierungsprojekt, institutionalisiert seit dem Lissabon-Vertrag hat sie es zu ihrem gemacht. Zu nationaler politischer Aktionsstärke hat sie es aber in dieser Zeit nur in Deutschland, Frankreich und Holland gebracht. Darüber hinaus, aber auch innerhalb dieser Dreiergruppe, sind ihre jeweiligen nationalen Aneignungs- und Verwertungsinteressen zu unterschiedlich. Jetzt, da die europäische Union nach 30 Unionsjahren heruntergewirtschaftet ist, ist sie nur noch Teil ihres überstaatlichen ideologischen Überbaus. Auf die nationale Ebene wirken die unionsweit bereits implementierten Mechanismen machterhaltend zurück, was gerade für die Kernländer Motivation ist, an der Union unbedingt festzuhalten. Wahrscheinlich aber nicht zu jedem Preis; die damit verbundene europaweite materielle Umverteilung wird sich die neofeudale Klasse gerade in Deutschland nicht mehr lange leisten wollen und können. Osteuropa wird die wirtschaftlichen Vorteile der europäischen Union nutzen, so lange es kann, sucht aber nach anderen politischen Bündnissen. Die neofeudale Klasse konnte sich dort nicht konstituieren und hat keine ideologische Basis.
Die UNO ist keine Organisation der neofeudalen Klasse. Sie ist ein Relikt des kalten Krieges und hat in der Weltordnung heute eigentlich keinen Platz mehr. Die Arbeitsorganisation der UNO wird durch die neofeudale Klasse unterwandert, um ihre Interessengebiete Migration nach Europa und globales Klimaregime zu fördern.
Dem Kapitalismus wurde durch Marx der Untergang aufgrund seiner inneren Widersprüche vorausgesagt. Das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist gewiß noch nicht gesprochen, auch nicht nach dem Scheitern der gigantischen Anläufe zum Sozialismus oder Kommunismus im 20sten Jahrhundert, dem Ende der Geschichte und dem Ende des Endes der Geschichte. Der Kapitalismus hat als Wirtschaftsordnung die Möglichkeit, sich immer wieder zu reproduzieren. Er besitzt in höchstem Maße was heute gern Resilienz genannt wird, ganz besonders durch seine Globalisierung.
Die neofeudalen Klasse besitzt keine Resilienz. Sie kann ihre Grundlagen nicht reproduzieren, sondern sie ist angewiesen auf • die Erhaltung durch andere • in ihrem funktionierenden Staatssystem. Sofern die neofeudale Klasse nicht zur klassisch-feudalen wird und eine unverhüllte Diktatur einführt (wie die eine oder andere Dystopie bereits prophezeit hat, daß dies geschehe), ist sie dem Untergang geweiht, wenn und sobald sie ihre materiellen Ressourcen erschöpft.
Das Versagen des wirtschaftlichen zieht das Versagen des administrativen Systems nach sich. Was wird geschehen, wenn • sich die wirtschaftliche Lage rapide verschlechtert und nicht mehr genügend Mehrwert (Sozialprodukt) in die Fütterung der neofeudalen Klasse fließt, • die staatliche Struktur so weit erodiert, daß die neofeudale Klasse signifikant an Herrschaft einbüßt, und • Unruhe entsteht und die bereits etablierten staatlichen Machtmittel nicht mehr ausreichen, sie einzudämmen? Das Kapital wird das Land verlassen, tut das in einigen Branchen längst. Die arbeitende Klasse wird versuchen, für sich zu sorgen, und sie könnte über die Mittel und die Lebenserfahrung verfügen, sich ein Leben zu sichern. Die neofeudale Klasse hat keine dieser Möglichkeiten, aber sie hat die Reste des Staates. Bei ihr geht es (wie immer in der Geschichte, wenn das Staats- und Herrschaftssystem einer Klasse zusammenbricht) um das Überleben. Auf dem Weg in ihren Untergang könnte sich diese Klasse noch zu Exzessen und Terror bereit finden, um ihr Überdauern immer weiter und um immer kürzere Fristen zu verlängern. Man blicke nach Frankreich, und die Brutalität gegen Demonstranten ist dort erst der Anfang. Vielleicht wird die Klasse aber auch eines Tages von sich selbst und der Erkenntnis der Vergeblichkeit so erschöpft sein, daß sie einfach with a whimper zusammenbricht wie das mitteldeutsche Regime 1989.
Der Kapitalismus hat die Kraft, sich immer wieder neu zu erfinden, der Sozialismus erfindet sich immer wieder alt. Aber jede herrschende Klasse in jeder Epoche sägt an dem Ast, auf dem sie sitzt, überdreht die Schraube, beraubt sich schließlich ihrer Existenzgrundlagen. Das ist Teil und Trost der Dialektik. Zu dumm auch, daß viele der anderen Teil des Kollateralschadens sein werden. Am Ende gewinnt die Realität, sagt Dushan Wegner <http://www.dushanwegner.com>. Das kann aber unerträglich lange dauern und muß auch für die anderen Beteiligten nicht gut ausgehen.
Die moderne systemische Kultur bleibt kritikresistent und setzt ihren Gang, wie das 20. Jahrhundert eindrucksvoll demonstriert hat, recht unbeirrt von allen Einwänden und Umsteuerungsversuchen fort. Ein großes Mißverständnis der älteren Zeitdiagnose hatte in der Vermutung bestanden, die Wirklichkeit könne und müsse sich vor den Tribunalen der "Kritik" rechtfertigen und schließlich dem Zugriff der "Politik" beugen. Heute zeigt sich, daß die einzige Instanz, die den Systemen gefährlich werden kann, diese selbst sind. Wirkliches Interesse erweckt heute nicht mehr das Tribunal, vor welches die kritische Partikularität ein träges Ganzes schleppt, sondern die Frage, welche Chance zur Selbststabilisierung und Selbstperpetuierung dieses Ganze durch seine selbsterzeugten Krisen hindurch besitzt.
(Rolf Peter Sieferle, "Epochenwechsel")